Die lange Nacht der Paleros

Die lange Nacht der Paleros

Entstehungszeitraum: 13/11/2013 - 06/02/2014

Übersetzungen

spanisch (spanisch/español) 

Leseprobe (Kompletter Text)

Zwischen 2000 und 2005 hatte ich immer mal wieder ein paar Wochen oder Monate in Santiago de Cuba gelebt und für meinen Roman „Herr der Hörner“ recherchiert, vor allem die Rituale der afrokubanischen Religionen Santería und Palo Monte. Als ich mit dem Roman im Herbst 2005 auf Lesereise ging, wies man mich öfter spöttelnd darauf hin, daß der kubanische Geheimdienst den Roman gewiß ebenfalls lesen und mich bei meiner nächsten Einreise verhaften würde. Was mir weit größere Sorge machte, war die Ankündigung eines Paleros, der eines Abends tiefschwarz vor mir am Signiertisch aufwuchs und mich in akzentfrei flüssigem Deutsch wissen ließ: Was in der heutigen Veranstaltung von den Ritualen des Palo Monte zum Vortrag gekommen, habe alles gestimmt; nun wolle er den gesamten Roman lesen und … werde sich schon bei mir zu melden wissen, wenn er etwa einen Fehler habe entdecken müssen.
Seine Ankündigung mußte ernstgenommen werden. Palo Monte ist, etwas vereinfacht gesprochen, eine ziemlich deftige Geheimreligion, die in ihrer schwarzen Richtung durchaus bis zum Menschenopfer gehen kann. Ja, auch heute noch. Und obwohl ich während meiner Aufenthalte in Santiago de Cuba selbstverständlich nur mit der weißen Richtung zu tun gehabt und von „meiner“ Bruderschaft auch ausdrücklich die Erlaubnis erhalten hatte, über ihre Rituale zu schreiben, sofern ich die entscheidenden Geheimnisse dabei nicht verriet – wer weiß, wie andere Bruderschaften darüber dachten, wenn sie von meinem Roman erfuhren. In den Bergen rund um Santiago de Cuba verschwindet auch heutzutage noch manch einer spurlos.
In den Bergen greift auch der Geheimdienst zu, wie ich anläßlich meiner Verhaftung – keineswegs bei der Einreise, sondern erst Tage später, bei einer Wanderung mit Freunden in der Sierra Maestre – feststellen durfte. Nun gut, man hatte es mir ja prophezeit. Viel schwerer als die sich anschließenden Verhöre nahm ich, mittlerweile zurück in Santiago de Cuba, die Bemerkung eines mir kaum bekannten Paleros auf offener Straße: Relativ barsch ließ er mich wissen, er würde gern gemeinsam mit ein paar Vertretern befreundeter Bruderschaften über meinen Roman „befinden“. Sobald ich aus dem letzten Kreuzverhör entlassen sei.
Wenige Tage später saßen fünf Paleros in meiner kleiner Wohnung und … „befanden“. Lesen konnten sie den Roman, abgesehen von den spanischen Flüchen und Zoten, ja nicht, doch der Text interessierte sie offensichtlich gar nicht. Es interessierte sie allein der Umschlag des Buches. Mein Verlag hatte ihn umlaufend mit der Unterschrift eines der mächtigsten Götter des Palo Monte bedruckt – des Gottes Sarabanda –, ein graphisch eindrucksvolles Ensemble aus Pfeilen, Kreisen, Kreuzen. Für den potentiellen Buchkäufer, so die Erwägung im Verlag, fast so was wie moderne Kunst. Für einen Palero, und das hatte ich die ganze Zeit vergessen und begriff es erst wieder in dieser langen Nacht, war das Umschlagmotiv so ziemlich das Gegenteil moderner Kunst. Nämlich nichts weniger als die Unterschrift eines Gottes, mit der bei entsprechenden Ritualen seit Jahrhunderten, vielleicht Jahrtausenden und eben auch heute noch „gearbeitet“ wird, sprich: ein ganz konkreter Zauber auf irgendwen oder -was ausgeübt wird, ob zu dessen Schaden oder Nutzen. Man zeichnet die Unterschrift des Gottes mit Kreide oder Kohle auf den Boden, häuft Schießpulver auf sämtliche Schnittpunkte der Pfeile, und wenn man dann mit der Glut einer brennenden Zigarre – nun, das sollte ich hier vielleicht nicht weiter ausbreiten.
Man muß freilich wissen, daß all die Unterschriften von Göttern, mit deren Hilfe gezaubert wird, in den Kladden einer Bruderschaft nur unvollständig aufgezeichnet sind, damit „die Gegenseite“, sofern ihr das Buch in die Hände fallen sollte, nicht damit „arbeiten“ kann. Eine der Unterschriften irgendwo vollständig abzubilden, zum Beispiel auf einem Buchumschlag, wäre nicht bloß eine grobe Fahrlässigkeit, sondern ein schwerwiegendes Vergehen, da sie dann ja von jedem x-beliebigen Palero für jeden x-beliebigen Zweck verwendet werden könnte, auch zum Schaden der eigenen Brüder.
Jetzt sah ich den Umschlag meines Buches mit ganz anderen Augen als in Deutschland. Ich konnte nur hoffen, daß ein wichtiges Detail darauf fehlte. Hätte sich der Palero, der sich während meiner Lesereise vorgestellt hatte, nicht auch gemeldet, wenn er einen Fehler auf dem Umschlag gefunden hätte? Also das Fehlen eines Fehlers, sozusagen?
Erst weit nach Mitternacht fingen meine Gäste zu singen an, und von diesem Moment an, da sie das Buch nicht mehr heftig debattierend herumreichten, sondern sorgfältig in ihrer Mitte ablegten, war die Lage sogleich entspannt. Kein Wort der Erklärung, nicht mal ein Nicken, das mir signalisieren wollte, der Umschlag und damit auch der Roman seien hiermit von ihnen gebilligt, vielleicht gar gutgeheißen, abgesegnet. Aber bis zum Morgengrauen tranken und rauchten und sangen sie mit mir, ich sei ja nun fast einer der ihren. Schließlich sagten sie mir mit ihren Kaurimuscheln auch noch die Zukunft voraus. Da hatten sie jedoch schon so viel getrunken, daß sie nicht etwa nur ein wichtiges Detail ihrer Weissagung, sondern jede zweite Silbe verschluckten. Ich verstand kein Wort und nickte zu allem, was sie sagten.