Mein Haß aufs Meer

Mein Haß aufs Meer

erschienen/erscheint bei:

mare No. 100, Oktober/November 2013

Entstehungszeitraum: 11/04/2013 - 19/06/2013

Leseprobe

Schon vor meinem ersten Tauchgang war ich scharf auf Haie. Sobald ich dann einen kleinen Weißspitzenhai entdeckt und auch gleich aus seiner Sandkuhle aufgescheucht hatte, war ich auf der Spur. Ich wollte mehr.
Ich bekam mehr. Graue Riffhaie. Richtige Haie. Aber es sollte eine Weile dauern, so einfach waren die für Sporttaucher gar nicht zu haben. Je näher man ihnen kam, desto strenger wurden die Sicherheitsbestimmungen, desto aufwendiger die Vorbereitungen. Doch das konnte mich nicht abhalten. Ich wollte mehr. Und ich bekam mehr.
Bereits als Kind hatte ich mit Haien viel zu tun gehabt. In den Sommerferien ging es jedes Jahr in die Provence, und wenn wir dann in der Nähe von Le Lavandou Stellung bezogen hatten, mein Vater, meine Mutter, das Zelt und ich, so bestand eines der täglichen Rituale darin, um „das Riff“ herumzuschwimmen, eine Art felsiger Landzunge, und zurück an unseren Strand. Schon damals war ich kurzsichtig, umso kurzsichtiger – so kam’s mir vor – im Wasser, wo sich die Dinge in der Tiefe ohnehin schwer orten ließen. Und dann ohne Brille! Wenn der Mistral aufkam, wurden die Wellen ein bißchen ruppig, mein Vater hatte mir beigebracht, daß man besser gleich ohne Brille ins Wasser ging. Je weiter ich ins Meer hinausschwamm, desto schneller zerfloß mir am Ufer seine Gestalt, bald auch die Konturen des gesamten Riffs, der Berge dahinter. Umso klarer und eindeutiger sahen die Felsformationen unter mir wie Haie aus. Bei jedem Zug, den ich tat, mußte ich damit rechnen, von ihnen angegriffen zu werden. (…)