Der Wille zur Mediokrität

Der Wille zur Mediokrität

erschienen/erscheint bei:

u.d. Titel „Der Wille zum Mittelmaߓ in: DIE ZEIT, 17/11/11.

Entstehungszeitraum: 21/12/2007 - 23/10/2011

Leseprobe

„Daß man seine Gegner mit gedruckten Gründen überzeugen kann, habe ich schon seit dem Jahre 1764 nicht mehr geglaubt. Ich habe auch deswegen die Feder gar nicht angesetzt, sondern bloß, um (…) denen von unserer Seite Mut und Stärke zu geben und den andern zu erkennen zu geben, daß sie uns nicht überzeugt haben.“ Der trotzige Stolz dessen, der eine Sache zwar nicht mehr gewinnen kann, sie aber deshalb noch lange nicht verloren geben will – von Georg Christoph Lichtenberg vor einem knappen Vierteljahrtausend aphoristisch auf den Punkt gebracht –, führt auch heutzutage zu entsprechenden Wortmeldungen: Ob in den traditionellen Printmedien, ob in Online-Magazinen und Blogs, es machen sich zunehmend Leute bemerkbar, denen angesichts der grassierenden Musicalisierung unserer Gesellschaft der Kragen geplatzt ist. Zwar glaubt keiner mehr daran, den Untergang des guten alten Kulturbegriffs verhindern zu können, wird aber durch das laute Geknalle ermutigt, weiter durchzuhalten, schließlich gibt es in den Schützengräben des in Auflösung befindlichen Bildungsbürgertums ja offensichtlich noch den einen oder anderen versprengten Verbündeten, man ist also noch nicht vollkommen allein – immerhin.
Es fing im Grunde lange vor 1989 an, vielleicht schon mit der vermeintlichen „Amerikanisierung“ unseres kulturellen Lebens und der daraus resultierenden Etablierung von Pop und Mainstream; spätestens jedoch mit der Einführung des Privatfernsehens Mitte der 80er-Jahre, das mit seinem effektsicheren Erlaubt-ist-was-Gefällt die kritischen Instanzen aus unserem gesellschaftlichen Gespräch verdrängte. Zum tatsächlichen Dammbruch kam es freilich erst nach der Wende, die 1989 ja nicht nur für Deutschland, sondern für die ganze Welt eingeläutet wurde. Neben den Grenzen von Staaten brachte sie auch so ziemlich alles andere an Vertrautem und Gewohntem in Fluß und, vor allem, hielt es seither permanent in Bewegung, so daß sich nichts davon wirklich setzen, absetzen, verwurzeln konnte.
Was als Erfahrung von Freiheit für den einzelnen ein Segen, wurde als kulturelle Wende schnell zum Fluch; die einstmals gespaltene und parzellierte Welt mit ihrer Vielfalt an kulturellen Alternativen lief innerhalb weniger Jahre in einem globalistischen Strudel zusammen, dessen schemenhaft vorbeiwirbelndes Treibgut uns von einer perfekt aufeinander abgestimmten Verwertungmaschinerie als weltweit kompatibles Wohlfühl- respektive Erregungs-Entertainment aufgedrängt wird: blau bepinselte Männer, die siebzehn Tenöre, All-age-Vampire, begnadete Körper … Am Ende zählt alles zu sex in the city. Tatsächlich ist, was auch immer mit viel Bohei an uns vorbeirauscht, meist auf solch beschämende Weise abgeschmackt, austauschbar, banal geworden, nicht unbedingt in jedem Fall: schlecht, aber eben: mittelmäßig, daß wir uns ernsthaft fragen müssen, mit welchen kulturellen Stimulanzien wir den Rest unsrer Lebenszeit eigentlich noch frisch bestücken können.
Burn-out der Kultur? Was wir erlebt haben und weiterhin erleben (…)