Die Abwesenheit des Eises und der Finsternis

Die Abwesenheit des Eises und der FinsternisMythos Nordwestpassage: enttäuschend großartig

erschienen/erscheint bei:

u.d. Titel „Die Passage“ in: Die Zeit, 27.11.2024.

Entstehungszeitraum: 25/03/2024 - 06/10/2024

Leseprobe

Der Käptn ist ein Pfundskerl, Typ Hamburger Jung, jeder freut sich, wenn er ihn zufällig auf einem der Decks trifft. Aber daß er uns nun auf der Bühne des HanseAtriums überrascht, kann nichts Gutes bedeuten.

Das HanseAtrium ist der Vortragssaal auf der Hanseatic Spirit, das Reich der Experten. Auf der LED-Wand hinter der Bühne zeigen sie uns allabendlich Flechten und Moose, die wir beim letzten Landgang übersehen haben, anschließend die Gesteinsformationen, die wir bei der nächsten Anlandung gar nicht erkennen würden. Eine Expeditionskreuzfahrt ist, abgesehen davon, daß sie ein Widerspruch in sich ist, vor allem eine Bildungsreise.

Nun aber der Käptn. Auf der LED-Wand hinter ihm leuchtet die Karte der Nordwestpassage auf, von Alaska, wo wir uns vor zwei Wochen eingeschifft haben, bis zur Ausfahrt in die Baffin Bay und hinüber nach Grönland, wo unsre Reise in zwei Wochen zu Ende gehen wird, das ganze Labyrinth an Buchten, Meerengen und Kanälen, in deren Namen das Ringen um die Entdeckung dieser Route nachklingt: Amundsen Gulf, Franklin Strait, M’Clintock Channel …

Nun also der Käptn. Es habe sich bis zur Brücke herumgesprochen, daß wir das Eis auf dieser Reise vermissen und langsam unruhig würden, deshalb habe er uns heute mal die Eiskarte für unsre Region mitgebracht. Im arktischen Inselmeer hinter ihm leuchten verschiedene Farben auf, Rot steht für ordentlich verkeiltes Treibeis, man sieht es nur rund um King William Island, das immerhin auf unsrer Route liegt. Doch ehe wir uns darüber freuen könnten, eröffnet uns der Käptn, dies sei der Stand vor drei Wochen gewesen. Worauf er uns die aktuelle Lage auf die LED-Wand spielt, das Rot in den Wasserstraßen rund um King William Island ist bis auf einen kleinen Fleck verschwunden.

Es geht nicht mal mehr ein Raunen durchs Publikum. Das bißchen Eis, das auf der Karte noch zu sehen ist, dürfte auch bald abgeschmolzen sein – der Nordwestpassagen-GAU. Wir sind auf dem richtigen Schiff, haben den richtigen Käptn und die richtigen Experten, dennoch fragen wir uns seit Tagen: Gibt es ein richtiges Reisen im falschen? Wird man nach unsrer Heimkehr spotten, wir wären auf einen Mythos hereingefallen, der durch den Klimawandel längst überholt ist?

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