Europa, ein Übernahmekandidat?

Europa, ein Übernahmekandidat?

erschienen/erscheint bei:

gekürzt u.d. Titel „Der gelähmte Kontinent“ in: DAS PARLAMENT, 28/4/14.

Entstehungszeitraum: 26/01/2014 - 26/03/2014

Leseprobe

Seit Jahr und Tag wurde im öffentlichen Raum die immer gleiche, wohlfeile Bekundung in Umlauf gehalten: Die EU sei zwar in der Krise, als Modell aber nach wie vor alternativlos, ebenso zukunftsweisend wie tatsächlich zukunftsträchtig. Haben wir uns da etwa unisono Mut zugepfiffen? Wir in unsrem politisch handlungsunfähigen, militärisch ungeschützten, wirtschaftlich prekären, an seinen Rändern schwächelnden, inzwischen selbst in seiner Mitte schwankenden Hort der Aufklärung, umbrandet von Gegenaufklärung aller Art?
Die Annexion der Krim durch Rußland hat uns auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht. Putin hat einmal mehr gezeigt, daß seine entblößte Männerbrust in Rußland weit mehr bedeutet als die vom Westen so gepriesene Dialogbereitschaft. Er pfeift auf die „entschlossenen“ Sanktionen der EU. Was, wenn sich Rußland als nächstes die Ostukraine – und als übernächstes vielleicht Georgien oder gar Lettland einverleibt? Müssen es dann wieder die Amerikaner für uns richten? Die Europäische Union, die dieser Tage angeblich näher zusammenrückt, hat es bisher nicht geschafft, eine funktionierende Drohkulisse aufzubauen. Und das traut ihr auch kaum noch jemand zu.
Den kursierenden Bekenntnissen zur EU fehlt nämlich seit Jahren etwas Entscheidendes – die Begeisterung. Der unbedingte Wille, die Idee unsrer Väter und Großväter nicht als Freihandels- und Phrasenzone zu verspielen. Man konzentrierte sich aufs Flüchtlings- oder Euro-Krisenmanagement und sparte das Nachdenken über die geistig-kulturelle Verschmelzung der europäischen Nationen für später auf. Offensichtlich war Europa kein kostbar Gut mehr, das man behutsam befördert, sondern ein sachzwanghaft interpretiertes Abstraktum, ein Besitz ohne rechten Besitzer.
Nun hat man immerhin einen gemeinsamen Gegner und damit neue Schubkraft, um sich als bekennende Europäer zu präsentieren. Aber was heißt das schon! Es reden ja vor allem diejenigen, die sich bequem in einer unserer europäischen Gesellschaften eingerichtet haben. Ihre Stellungnahmen ähneln einander auf ermüdende Weise, sind sie doch rein theoretischer Natur. Hätten sie die Grenzen Europas je ernsthaft überschritten, also über den Rahmen touristischer Schmankerlkurse hinaus, dann hätten sie die schmerzliche Erfahrung gemacht, daß Europa von den meisten Hotspots des Weltgeschehens aus verflucht antiquiert aussieht, verflucht kraftlos und müde – eine saturierte Wohlstandsoase ohne weitere Bedeutung.
Wenn wir etwa glauben sollten, daß wir für unsre viel beschwornen Werte – Menschenwürde, Pluralismus usw. – andernorts bewundert werden, so ist das ein Irrtum. Taxifahrer und Gemüsehändler sprechen weltweit eine deutlichere Sprache als Friedensnobelpreisträger. Ihre Botschaft ist eindeutig: Wo immer wir als Vertreter dieses oder jenes Staates möglicherweise noch punkten, werden wir als Vertreter Europas nur belächelt. Für die Amerikaner sind wir als zauderndes und im entscheidenden Moment versagendes „Altes Europa“ ein Fall für die NSA geworden. Im Fernen Osten sieht man uns in unsrer gutmenschlichen Restbetriebsamkeit beinahe als Inkarnation des Stillstands. Für Putin und die Anhänger eines erstarkenden Großrußlands sind wir schlichtweg Schlappschwänze.
Europa, ein Übernahmekandidat? (…)

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