Mind the Gap

Mind the Gap

erschienen/erscheint bei:

Matthias Politycki („Gastgeber“): London, Signale aus der Weltmaschine. Hamburg (corso) 2011; gek. in: Deutsch. Ideen Sprach- und Lesebuch 8 (ohne Hg.). Braunschweig: Westermann Schroedel Diesterweg Schöningh Winklers, 2012; gek. in: Ewald-Spiller, Fabritz, Geiger u.a. (Hg.): Deutsch Ideen Anregungen und Materialien 8, Ausgabe Ost u. Deutsch: Ideen Sprach und Lesebuch 2012 u. 2013. Braunschweig: Westermann Verlag 2015; Rund um Deutsch Ideen 8 Ost (CD-Rom u. Online). Ebd. 2015.

Entstehungszeitraum: 07/10/2009 - 03/11/2010

Leseprobe

Dezember 2009: Seit einem knappen Vierteljahr wohne ich in Mile End, mitten im wilden Osten Londons, auf dem Campus des Queen Mary College, direkt am Kanal. Von meinem Schreibtisch aus kann ich Enten und Hausboote sehen, Kanufahrer und Spaziergänger – es ließe sich kaum ein beschaulicherer Ort finden, um Romane oder Gedichte zu schreiben. Wenn da nicht noch der Rest der Stadt wäre, das East End zunächst mit seinen derb verklinkerten Straßenzügen, Hochburg der Bengalen und neuerdings auch all derer, die irgendwie hip sein wollen; ganz abgesehen von den verbliebnen Armen und Ärmsten der Armen, die einst das East End prägten und nun in den Docklands zusehen dürfen, wie der reiche Westen sogar Viertel erobert, die Charles Dickens als die heruntergekommensten der Stadt rühmte. Und drumherum dann … der ganze große Rest, Tag für Tag, Nacht für Nacht: Greater London ist ziemlich viel für jemanden, der aus einem Land kommt, das sich noch heute als Summe seiner Provinzen begreift.
Apropos Deutschland: Daß es in den britischen Nachrichten so gut wie gar nicht vorkommt, muß nicht unbedingt überraschen; aber daß sich die zahlreichen Deutschen, die hier leben – meiner Kenntnis nach als die einzige Minderheit in dieser an Minderheiten überreichen Stadt –, durch Assimiliation völlig im Londoner Weltbürgertum auflösen anstatt wenigstens in Ansätzen Flagge zu zeigen, meinetwegen mit Brezel-Bäckereien oder mit Kneipen, in denen es Augustiner Edelstoff und Schweinsbraten mit Knödeln gäbe, ist das nicht bezeichnend?
Zugegeben, seit kurzem gibt es ein Bavarian Beerhouse, sogar doppelt, mit „charming waitresses in traditional Bavarian Dirndl dresses“. Serviert wird freilich Currywurst und Schweizer Wurstsalat, dazu „Jaegermeister on-tap“, „Porno Brause“ und Krombacher Pils im Maßkrug alias stein. Achtung, „Monday & Tuesday Schnitzel Madness“! Und wenn nicht gerade die Hotz’n Plotz Beer Brothers oder die Zipfi Zapfi Boys spielen (…)