Schere im Kopf
Schere im KopfRomanschreiben in Zeiten von Zensur und Selbstzensur
April 2024 im Verlag Ulrich Keicher
44 Seiten, Broschur, fadengeheftet
€ 18,-
Über das Buch
„Mein Abschied von Deutschland“ – angesichts einer sich verengenden Debattenkultur in Deutschland veröffentlichte Matthias Politycki bereits 2021 ein vielbeachtetes Plädoyer für die Freiheit des Wortes. In seiner Rede „Schere im Kopf“, gehalten 2023 in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste schildert er, wie die vielfältigen Verbote der Identitätspolitik inzwischen, wenn auch wider Willen, in seinem eigenen Kopf angekommen sind und seine Arbeit als Schriftsteller Satz für Satz beeinträchtigen.
Leseprobe
Meine erste Reise über die Grenzen Europas hinaus führte mich 1978 nach Ägypten, da war ich 23. Wir – meine Freundin, ein Freund und ich – überführten jeder einen Mercedes nach Kairo, dafür gab’s je hundert Mark. Als wir ankamen, war’s Mitte August, so ziemlich die schlechteste Reisezeit für Ägypten, und auch sonst machten wir falsch, was man nur falsch machen konnte. Nach drei Tagen lagen wir krank im Hotel. Nach vier Wochen waren wir so erschöpft, daß wir am liebsten Urlaub gemacht hätten. Alles, was wir bis dahin von der Welt zu wissen und zu verstehen geglaubt hatten, war auf höchst aufregende Weise in Frage gestellt worden. Kaum zu Hause angekommen, beschlossen wir, bei nächster Gelegenheit erneut nach Afrika aufzubrechen.
Und bald auch nach Asien und sonstwohin. Ich reise, um das Andre ein bißchen besser zu verstehen und dadurch auch das Eigne und mich selbst. Keinesfalls reise ich, weil ich mir Inspiration erhoffe, ich schreibe nur dann, wenn ich das Erlebte anders nicht verarbeiten kann. Auch in den Ländern Afrikas entstanden auf diese Weise Gedichte und Erzählungen, 2020 ein erster Roman, „Das kann uns keiner nehmen“. Bis vor kurzem bedurfte das keiner Rechtfertigung. Im Gegenteil, es galt als weltoffen, und man durfte sich als Teil eines internationalen Kulturtransfers begreifen, der dem Ideal des Weltbürgertums verpflichtet war.
Das hat sich dramatisch verändert. Was früher als Bildung und Herzensbildung verstanden wurde, steht nun unter dem Generalverdacht der unstatthaften „kulturellen Aneignung“, jedenfalls bei einem wie mir, der als Vertreter eines „Tätervolks“ plötzlich nicht mehr so sehr als Nachgeborener der NS-Zeit gesehen wird denn als einer des europäischen Kolonialismus. Ich schreibe seit über fünfzig Jahren, noch nie ist es mir so schwergefallen wie bei meinem aktuellen Roman. Erst wenn man die Freiheit verloren hat – nicht nur die Freiheit der Niederschrift, sondern bereits die Freiheit der allerersten vagen Idee, die Freiheit der Phantasie –, erkennt man, wie wahrhaft grenzenlos und grenzüberschreitend sie bis gerade eben noch war.
Der Roman, den ich seit meiner Reise im Frühjahr 2020 schreiben wollte, spielt in Äthiopien kurz vor Ausbruch des jüngsten Bürgerkriegs. Handlung und Figuren hatte ich zum Teil vor Ort erlebt und glasklar vor Augen, dazu eine detaillierte Gliederung und 350 Seiten Notizen. Ich hatte den Klang der Sätze im Ohr, die ich während meiner Reise notiert hatte, und damit auch schon den Sound des noch ungeschriebenen Romans. Szene für Szene sah ich wie in einem Film vor mir ablaufen, x Mal hatte ich die Schlüsseldialoge mit mir selbst geführt – die Niederschrift hätte ein einziger Rausch werden können. Doch jeden Morgen mußte ich mich erst mal durch all die Skrupel hindurcharbeiten, die mir der Zeitgeist aufzwang, mußte einen Gutteil meiner Schaffensfreude aufbringen, um überhaupt weiterzuschreiben.
Stimmt etwas nicht mehr mit mir? fragte ich mich, oder stimmt etwas nicht mehr mit den Rahmenbedingungen, unter denen Literatur entsteht?
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