Warum ich es (nicht) lassen kann.

Warum ich es (nicht) lassen kann.Meine ersten Lieblingsbücher (9/1/04)

erschienen/erscheint bei:

u.d.T. „Matthias Polityckis Lieblingsbuch“ in: Süddeutsche Zeitung, 5/3/04

Entstehungszeitraum: 27/01/2004

Leseprobe

Mein erster „Lektüreeindruck“ ist das Bild meiner Mutter: Seitdem ich allein herumkrabbeln konnte, entdeckte ich sie auf dem Sofa liegend, lesend, manchmal versäumte sie dabei sogar zu kochen, und ich fand das nicht etwa empörend, sondern ziemlich spannend: Was mochte sie erleben, wenn sie dabei sogar Hunger und Durst vergaß! Aufgeregt malte ich die Beschriftung von Spüliflaschen und Persilkartons ab, abschreiben konnte ich sie damals ja noch nicht.
Wenige Jahre später lag ich dann selber, lesend, allerdings im Bett, denn als Kind war ich oft krank – jeden Tag brachte mein Vater ein neues Buch aus der Bibliothek mit („Doktor Dolittle“! „Fünf Freunde“!), und als ihm die Fortsetzungsbände ausgingen, wurde ich einfach nicht mehr krank. Kurz drauf kamen Karl May und Jules Verne, hier sammelte ich bereits selber, und begann absurderweise vor allem damit, auf Zeit zu lesen; in jedes Buch legte ich vorne einen Zettel, auf dem penibel Stunden und Minuten notiert waren, die ich dafür aufgewandt: Lesen als Geschwindigkeitsrausch. In diese Zeit fiel freilich auch mein erstes prägendes Lektüreerlebnis, irgendein Wohlmeinender hatte mir Schadewaldts Prosa-Übertragung der „Odyssee“ geschenkt, und ich las sie tatsächlich – nicht auf Zeit und auch nicht im Liegen, denn ich brauchte dazu ständig den Großen Brockhaus, und der stand nun mal im Wohnzimmer. Trotz aller Nachschlagerei begriff ich höchstens die Handlung – zu viele Götter, zu viele fremde Kulturen, ja schlichtweg zu viele Ausdrücke, die mir nicht geläufig waren –, ersatzweise malte ich Route und Aufenthaltsorte des Odysseus in meinen Schulatlas