Blick zurück nach vorn

Blick zurück nach vornAm Anfang vom Ende einer deutschsprachigen Literatur

erschienen/erscheint bei:

gehalten als Ringvorlesung an der Münchner Universität, 14/12/99

Entstehungszeitraum: 14/12/1999

Weitere Formate und Veröffentlichungen


in: V. Schubert (Hg.): Begegnung der Zeiten. 2002; bearb. Auszug u.d.T. „Wo steht die deutsche Literatur? Kurzer Blick zum Spielfeldrand am 31.12.1999“ in: B. Hillebrand (Hg.): Wo steht die Dichtung heute? 2002.

Leseprobe

Meine Damen & Herren, absolvieren wir zunächst den obligatorischen Blick zurück aufs vergangne Jahrhundert, im Zeitraffer, versteht sich, und unter strengstem Verzicht auf Objektivität. Meine diesbezügliche These lautet, daß wir jetzt, an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, in etwa wieder dort angelangt sind, wo wir vor hundert Jahren auch schon waren: nämlich bei einer Literatur, die auf der Höhe ihrer Zeit ist und mit ihr in einer äußerst verwirrenden Schwellenepoche, die zum ersten Mal seit Expressionismus und Dadaismus wieder das Zeug hat, Anfänge zu setzen. Literarische Blütezeiten finden in Deutschland ja mit Vorliebe rund um Jahrhundertwechsel statt, um 1200, 1800, 1900 und, da bin ich mir sicher, auch um 2000.
An ein quasi-hegelianisches Geschichtsmodell inklusive linearer Höher- und Weiterentwicklung zum immer Besseren, Wahreren, Schöneren glaube ich nämlich nicht; der Fortgang auch unsres Jahrhunderts erscheint mir eher in Sinuskurven, gleich mit einer heftigen Amplitude beginnend, die in den zwanziger Jahren massiv abflaut und wenig später – Thomas Mann, der Mediokritätsguru des Bürgertums, ist ja eine zusammenfassende Inkarnation des 19. Jahrhunderts – schon tief in der ästhetischen Restauration steckt. Daß die sogenannte Exilliteratur diesen Niedergang nicht wesentlich aufhalten konnte, behaupte ich im selben Atemzug, und daß im Jahre 1945 auch literarisch wieder bei Null angefangen wurde, erst recht – natürlich nicht von einem Benn, aber wir reden hier ja nicht über Ausnahmen.
Nach ‘45 wurde die deutsche Literatur ziemlich grundsätzlich entgrätet und entbeint – sicherlich korrekturbedürftig, daß Jünger bislang bloß in Frankreich einen angemessenen Stellenwert hat! -, eine politisch korrekte Aufarbeitungsliteratur namens Gruppe 47 hob an, bitter notwendig seinerzeit, heute fast schon wieder vergessen. Auch die sich anschließende Neue Innerlichkeit, als das dialektische Umschlagen des 68er-Furors in eine elfenbeintürmchenhafte Selbsterkundung, ist Teil dieses langsamen Emporarbeitens der Sinuskurve aus ihrem Nullpunkt. In dieser Verkürzung klingen solche Sätze natürlich wie die reinsten Frechheiten, aber es hilft nichts, die Zeit drängt: Irgendwann in den 80ern war die heimische Aufholarbeit gegenüber andern Nationalliteraturen, vorzugsweise der amerikanischen, geleistet, und man geriet ein bißchen in den orientierungslosen Leerlauf eines permanenten Avantgardismus – mit meinem ersten Roman war ich selber voll dabei. Und als die Unlust der Leser an derlei überhandzunehmen drohte und sich mit einigem Recht zur Importware aus USA flüchtete, gab’s eine bis in die 90er zum Teil erbittert geführte Debatte um die deutsche Gegenwartsliteratur (…)