Das Buch aus Stein
Das Buch aus SteinWie sich ein kleines italienisches Provinzstädtchen zunehmend in Poesie verwandelt
gekürzt und u.d.T. „Der weißeste Wind der Welt“ in: Süddeutsche Zeitung, 8.5.06; enth. in: Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft
Nehmen wir etwas Hübsches wie Eichstätt, sagen wir Anfang der Achtziger, sagen wir: Ein bekannter deutscher Dichter mittleren Alters und Herr S., Mitglied des bayerischen Landtags, wandern durchs Altmühltal, und natürlich steht gegen Abend ein Besuch im Gasthaus an. Doch halt! Bevor der Dichter einkehrt, befällt ihn der Drang zu dichten, er erbittet von seinem Begleiter einen Moment Pause und schon im Lokal kann er ihm sein Werk vorlegen: Fiel der Mond ein ins Altmühltal
Der Landrat, selbst ein Freund der Poesie, ist derart entzückt, daß er sich auf der Stelle zu dem Versprechen hinreißen läßt, er werde dies herrliche Gedicht zum Gedenken an diesen herrlichen Tag in Stein schlagen lassen. Und an der schönsten Stelle der Stadt aufstellen. Jaja, winkt der Dichter ab, schon recht.
Doch der Landrat hält sein Wort, mehr noch, er wählt eine ansehnliche Marmortafel, beflaggt den Ort der Poesie mit der deutschen sowie der Europafahne, sorgt für eine feierliche Enthüllung und jetzt kommt die Sache erst so richtig ins Rollen: Wie, wenn man jedes Jahr ein Gedicht in Stein schlagen ließe, wenn man ganz Eichstätt sukzessive in Poesie verwandeln würde?
Schon recht. Ein Politiker als Mäzen der Lyrik? Als ob der nicht andre Sorgen hätte!
Das hat er, und in Deutschland, zugegeben, wäre die Sache auch schwer vorstellbar. Nicht hingegen in Italien! Die Geschichte hat sich tatsächlich zugetragen, im gebirgigen Niemandsland zwischen Rom und Neapel, am Rande der Abruzzen, und die da gewandert sind