Letzter Spieltag

Letzter SpieltagWarum es auch im Fußball keine höhere Gerechtigkeit geben darf

erschienen/erscheint bei:

gekürzt u.d.T. „Tor der Tränen“ in: Süddeutsche Zeitung, 6/5/02; enth. in: Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft

Entstehungszeitraum: 04/05/2002 - 05/05/2002

Leseprobe

Das Zweitbeste setzt sich durch – mit dieser selbstgebastelten Allerweltsweisheit wartete ein Freund zur Studienzeit immer dann auf, wenn’s nach vielem Hin- und Herdiskutieren schlußendlich um Wertungsfragen ging: die Beatles vor den Kinks, Goethe vor Kleist, Thomas Mann vor Musil, FC Bayern vor Borussia Mönchengladbach; die Welt- und Wirkungsgeschichte sei voller Ungerechtigkeiten, weil sie Massenkompatibilität favorisiere, sprich: weil das wirklich Große nicht das größtmögliche Glück der größten Zahl bewirke. So einfach sei das, jedenfalls für einen Engländer.
Als Borussia Dortmund die Bundesligasaison 64/65 als Meister beschloß, wußte ich von dieser simplen Wahrheit noch nichts, lag reglos in der Badewanne, eine Fichtennadelkomprette perlte still vor sich hin, und lauschte den Reporterstimmen, die der Bayerische Rundfunk in seiner Sendung „Heute im Stadion“ für mich zum allsamstaglichen Weltweben zusammentönen ließ. Irgendwann war diese atemlos spannende Zeit zu Ende -, hing wohl mit der Tatsache zusammen, daß dem FC Bayern mit dem Erfolg auch das Geld und mit immer mehr Geld auch immer mehr Erfolg zuwuchs: Das Erringen von Titeln, so war schon in den 70ern deutlich zu sehen, geriet zunehmend zu einer Sache der geschickten Transfers, zu einer Sache des Managements. Trotzdem wurde‘s, spätestens im Verlauf der 80er, bei Intellektuellen wieder schick, sich als Fußballfan zu outen, vorzugsweise als einer des SC Freiburg, das kam gut – und hatte mit echter Leidenschaft, die sich ihr Objekt ebenso vernunft- wie hoffnungslos wählt, kaum mehr was zu tun. „SC Freiburg“, das konnte man so beiläufig sagen, wie man „Don DeLillo“ sagte, wie man „Beaujolais Primeur“ sagte, und wenn man dazu noch ein paar Abstiegssorgenfalten über die Stirn legte, konnten sogar weibliche Gesprächspartner Rührung zeigen.
Als der letzte Spieltag dieser Bundesligasaison um 15:30 Uhr angepfiffen wurde, saß ich im Samstagsstau auf der B9, Richtung Donau. Wie vor 20, 30 Jahren hörte ich „Heute im Stadion“, und in der Tat, das hatte noch immer den verheißungsvollen Klang der großen weiten Fußballwelt, sofort war ich probeweise mit Haut & Haaren dabei (…)