Scham bei Betrachtung schlecht strippender Dichter
Scham bei Betrachtung schlecht strippender DichterSuche nach einem Gedicht, auf das man stolz sein kann
Frankfurter Rundschau, gekürzt u.d.T.: „Jungs, es wird ein heißer Tag heute“, 20/9/03
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bearb. auch in: Bayerischer Rundfunk, Kulturjournal, 28/9/03; gekürzter Wiederabdr. in: Jahrbuch der Lyrik 2005
Neulich beim Zappen, liegt schon ein paar Wochen zurück, stieß ich auf einen deutschen Dichter, wie er eins seiner Gedichte vortrug und obwohl bloßer Zufallszeuge, wurde ich von einer Scham erfaßt, vergleichbar in ihrer Heftigkeit nur derjenigen, die ich als Schüler empfunden, wenn sich auf der Theaterbühne mal wieder irgendwer auszog. Das kam seinerzeit fast in jeder Inszenierung vor und stets so dilettantisch, daß Wegschauen auch ästhetisches Bekenntnis war. Nun aber hatte sich ein sogenannter Kollege um Kopf und Kragen gestrippt, und meine Scham wuchs nach dem Ende der Darbietung sogar noch, wuchs über Wochen und wurde dabei zu etwas Grundsätzlichem: wurde Scham über den Zustand der zeitgenössischen Lyrik, über den der Lyrikkritik nicht minder, die eine derart muffige Absonderung auch noch als Duft der großen weiten Welt zu inhalieren empfahl, Scham schließlich darüber, daß ich selbst womöglich qua Sippenhaft als Lyriker eine peinliche Figur war, irgendwie mitverantwortlich für den Gesamtzustand einer seit Jahrzehnten dahinsiechenden Gattung, ach, es war schlimm. Eine Handvoll mißglückter Verse hatte mich nachhaltig gekränkt; um mich von meinem ins Grundsätzliche gewachsnen Groll wieder zu befreien, sah ich nur eine Lösung: ein Gedicht zu finden, das mir mit ebensolcher Wucht den Glauben an die Gegenwartslyrik zurückgeben würde, eines, auf das man stolz sein und vielleicht sogar ein Leben lang zurückgreifen konnte. Dies gelang.
Nun wäre ein Rückgriff auf Ror Wolf naheliegend gewesen, auf Rühmkorf und Gernhardt und wie sie alle heißen. Zufällig geriet ich jener Tage aber an [
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