Shanghai von oben

Shanghai von obenEin Blick vom dritthöchsten Gebäude der Welt

erschienen/erscheint bei:

u.d.T. „Dem Himmel so nah“ in: DIE ZEIT, 14/3/02; enth. in: Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft

Entstehungszeitraum: 06/02/2002 - 15/02/2002

Leseprobe

Schon der Weg dorthin fällt, neudeutsch formuliert, unter die Kategorie „bananenkrass“. Zunächst scheint er zwar nur das zu bieten, was die Reiseprospekte eben so alles versprechen von einer „heimlichen Hauptstadt Chinas“ – im kilometerlangen Pulk der Touristen flaniert man über die alte Uferpromenade, den Bund, zur Linken den renovierten Prunk ehrwürdiger Kolonialgebäude, zur Rechten den braun sich krümmenden Huangpu, einen Nebenfluß des Yangtse von der Breite des Rheins, vor allem aber das gegenüberliegende Ufer, ein bizarres Gewimmel an Wolkenkratzern und: Ziel des Spaziergangs. Kurz vor dem kleinen Park, an dessen Eingang angeblich früher das Schild „Für Hunde und Chinesen verboten” hing, hat man die erste Rolltreppe hinab zum Fußgängertunnel erreicht.
Doch dann! Kaum ist das sichere Terrain des Bunds verlassen, führt der Weg direkt in ein chinesisches Disneyland, allerdings eines, das weniger Vergnügen als Verwunderung bereitet, eines, das auf sachlich sterile Weise zeigen will, daß man im Reich der Mitte nunmehr entschlossen Ernst macht mit der Moderne. Für einen Normalchinesen ist der Weg freilich de facto unbezahlbar, der Weg durch einen futuristisch mit Laserlicht- und Tonanimationen bestückten Hightech-Tunnel, in kleinen gläsernen Waggons gleitet man wie durch eine technizistische Trance-Erfahrung. Und wenn man am Ende des dreiminütigen Trips das andre Ufer betritt, kehrt nicht etwa der chinesische Alltag wieder mit all seinem geschäftigen Gewimmel, oh nein, sondern geht der Weg unvermindert weiter durch eine, so scheint’s, per Computeranimation simulierte Zukunftswelt aus der Retorte: Pudong heißt dieses seit einem Jahrzehnt buchstäblich aus dem bäuerlichen Boden gestampfte Stadtviertel – ein riesiges Reißbrettprodukt aus Einkaufszentren, U-Bahnhöfen, achtspurigen Ausfallstraßen und, vor allem, einer respektablen Anzahl von Hochhäusern, die ihren Namen verdienen: Meist von weltberühmten Architekten entworfen, bilden sie ein schnell wachsendes Konglomerat aus strammen Designerprodukten, auf ihren Spitzen und mitunter auch über die gesamten Fassaden mit aufwendigen Lichtinstallationen geschmückt — ein atemberaubender Anblick. Und vorneweg ein rosaroter Fernsehturm, später Nachfahr der Sputnik-Ästhetik und neues Wahrzeichen der Stadt.
Neu ist auf dieser Seite des Flusses freilich ausnahmslos alles – als ich Mitte der 80er vom Bund auf den Fluß blickte, zusammen mit Tausenden von Liebespaaren, die sich allabendlich dort einfanden, um wenigstens ungestört Händchen zu halten, da war das andre Ufer flach und unbebaut gewesen, Brach- oder bestenfalls Ackerland. Nun aber, da die Parteiführung das ehrgeizige Ziel ausgegeben hat, die Stadt müsse bis zum Jahr 2010 Hongkong den Rang als Drehscheibe Südostasiens ablaufen (…)