Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft

Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft

erschienen/erscheint bei:

gesendet in: Bayerischer Rundfunk, Radio Revue, 4/1/02

Entstehungszeitraum: 10/12/2001 - 11/12/2001

Weitere Formate und Veröffentlichungen


erneut gesendet: Bayerischer Rundfunk, Kulturjournal, 10/8/03; enth. in: Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft

Leseprobe

Als ich auf dem Hauptbahnhof von Seoul eine stattliche Serie von PCs entdeckte, mitten im Herbst und mitten in der Wartehalle, als ich kurz drauf herausbekommen hatte, daß man umgerechnet nur eine Mark einwerfen mußte, um für 15 Minuten online zu gehen: konnte ich nicht widerstehen. Und leerte mit zielstrebiger Selbstvergessenheit meinen digitalen Briefkasten.
Mit derselben Selbstvergessenheit als säße ich vor dem heimatlichen Mac; denn wie ich sämtliche koreanische Dialogboxen, statt über ihren tieferen Sinn ins Grübeln zu geraten, mit der Enter-Taste vom Bildschirm verscheucht hatte, erschien dort das längst Vertraute: die Briefumschlag-Icons meiner Digitalpost, die ich mittels Doppelklick gleich digital aufschlitzen konnte.
Nun blieb ich noch eine Weile in Seoul, und bald konnte ich nicht mehr widerstehen: Täglich fuhr ich zum Bahnhof und leerte meinen Briefkasten mit der allergrößten Selbstverständlichkeit, so, wie ich früher zum realen Briefkasten gegangen war, um dort nach realen Briefen zu sehen. Reale Briefe? Ja waren denn die digitalen weniger real? Und mein virtueller Briefkasten auf dem Hauptbahnhof – weniger real als der blecherne daheim in Hamburg, neben der Haustür? Bereits der Gang dorthin, obgleich ich ihn in fernöstlich verfremdeter Umgebung antrat, erzeugte exakt dieselben Gefühle, ##reale## Gefühle in mir wie ansonsten der Gang zum tatsächlichen Briefkasten: Hoffnung auf gewisse Briefe, Befürchtung einiger andrer, pauschale Neugier natürlich, gemischt mit einem gerüttelt Maß an reiner Mechanik des Handlungsvollzugs. Und auch nach Einwurf der Münze blieb mir die altbekannte Gefühlsmischung erhalten: Der digitalisierte Briefkasten zog mich vorübergehend so vollständig in seinen Bann wie der real existente, der Blick aufs AOL-Fenster erzeugte ein virtuelles Heimatgefühl, das dem tatsächlichen in nichts nachstand: Ob digital, ob haptisch – wenn man Post bekommt, dann darf man sich einige Momente lang sicher sein, nicht vollständig vergessen zu sein von dieser Welt.
Doch erst in Seoul erkannte ich, daß mir der virtuelle Briefkasten mittlerweile sogar wichtiger und vielleicht sogar vertrauter geworden war als der tatsächliche (…)