Weißer Mann – was nun?

Weißer Mann – was nun?Ein Nachruf zu Lebzeiten

erschienen/erscheint bei:

DIE ZEIT, 1/9/05; enth. in: Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft

Entstehungszeitraum: 25/08/2005

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englisch (englisch/english) 

Leseprobe

Nun ist es plötzlich vorbei mit Abwarten-und-Jammern, die allgemeine Verzagtheit in Deutschland weicht zusehends einer unerwartet betriebsamen Aufbruchsstimmung. Eifrig werden Leitartikel geschrieben und Manifeste verfaßt, ja vor allem auch ersehnt, ver-langt, mitunter gewaltsam herbeigezwungen, als ob man auf diese Weise wenigstens anderen schon mal die Entschlossenheit unterschieben könnte, die man selber noch nicht hat: Der schleichende Niedergang der Parteiendemokratie, wie wir ihn als Telekratie seit Jahren miterleben müssen – als Simulationsterror der Meinungsbarometer und Talkshows, die mit ihren Standardmoralkeulen fast jedes authentische Sprechen unmöglich machen –, hat ein gefährliches Machtvakuum bewirkt, das nicht etwa nur von „Frustrierten“, sondern vor allem von der intellektuellen Mitte unsrer Gesellschaft wieder neu gefüllt werden will.
Doch selbst wenn das gelänge (und nebenbei das Kunststück, aus einem hochverschuldeten Sanierungsfall ein florierendes Restart-up-Unternehmen BRD-II herauszulösen), stünde dahinter nach wie vor als weit größeres, zentraleuropäisches Problem: der drohende Abstieg des ehemaligen „Westens“, als „Altes Europa“ bereits explizit dem Untergang geweiht, vergleichbar demjenigen der habsburgischen K.u.K.-Monarchie nach dem Ersten Weltkrieg, als eines seit Generationen gepflegten Lebens- und Kulturprinzips. Mit der Postmoderne und ihrem zersetzenden „Anything goes“ haben wir das Ende der Aufklärung erreicht, ist die Skepsis der Freigeisterei so weit fortgeschritten, daß sie anstelle ernsthafter Visionen nurmehr eine müde Generalironie entwickelt, ein achselzuckendes Laissez-faire, Tarnvokabel „Toleranz“, gegenüber allem und jedem: Das entsprechende Erstarken inter- wie intranationaler „Ränder“ wird uns eine Unzahl an Sub- und Parallelwelten bescheren, wird am Ende auf eine radikale Parzellierung der Gesellschaft hinauslaufen – nicht zuletzt aufgrund passiver Eliten, die dem Zerfall des Ganzen zur bloßen Summe seiner Teile nichts entgegenzusetzen haben und dies auch längst nicht mehr wollen.
Jenem uneuphorischen Auftakt zum Trotz: Hier schreibt kein resignierter Ex-Rotgrüner, am allerwenigsten ein verkappter Rechter, der mit seiner These vom „Untergang des Weißen Mannes“ erst sämtliche Frauen- und Multikultibeauftragten hinwegbeleidigen und anschließend eine krawattengeschnürt neokonservative Revolution ausrufen möchte. Im Gegenteil, das ist ja bereits Teil des Problems, die meisten, mit denen ich in letzter Zeit gesprochen habe, gehören – obwohl allesamt überzeugte Demokraten – einer viel zu lang schon schweigenden Mehrheit an, die unter ihren politischen Repräsentanten kaum noch einen ausmacht, von dem sie sich angemessen repräsentiert fühlt: Deshalb kommt ja nun endlich, wo diese parteipolitisch entwurzelte, gefährlich hin und her schwankende Mitte zu einer neuen Sprache finden muß, eine Diskussion in Schwung, die ein verschärftes Aufmucken freischwebender Intellektueller und in summa wieder so etwas wie eine außerparlamentarische Opposition erkennen läßt. Nur ebenjener gerade entstehenden Bewegung, die aus dem überkommenen Links-Rechts-Denkschema auszubrechen und ihren traditionellen sozialliberalen Impetus mit wertkonservativen Posi-tionen zu versöhnen sucht, würde auch ich mich zurechnen lassen.
Wer sich nur ein wenig außerhalb Europas herumgetrieben hat, weniger als Tourist denn als Reisender, und dabei manchmal, wie ich, gerade noch mit dem Schrecken davongekommen ist, wird vielleicht schon ahnen, was ich im folgenden schlaglichtartig zu beleuchten suche, wenn ich vom „Untergang des Weißen Mannes“ spreche. Ich gebrauche den Begriff ausdrücklich nur in polemischer Absicht – als ein Kürzel für das, was ich unter der kerneuropäischen, nach wie vor der Aufklärung verpflichteten Spielart westlicher Kultur verstehe; mit der Hautfarbe im engeren Wortsinn hat er lediglich metaphorisch zu tun. Daß die gewählte Metapher zu einigen Karl-May-haften Assoziationen reizt, darf nicht davon abhalten, sie für komplexere Gedankengänge zu funktionalisieren; die Wirklichkeit läßt sich nun mal am besten demaskieren, wenn man sie erst einmal auf ihr Klischee reduziert.
Für die Recherchen zu meinem neuen Roman lebte ich einige Monate auf Kuba, im schwarzen Süden der Insel (…)