Hundert notwendige Gedichte. Und ein überflüssiges
Hundert notwendige Gedichte. Und ein überflüssiges(als Hg.) (20/8/90)
Luchterhand, 3/92
vergriffen; zu beziehen über Warmbronner Antiquariat Ulrich Keicher, Postfach 7044, 71216 Leonberg, Tel. 07152/72195, U.Keicher@t-online.de
185 Seiten
ISBN 3630867839
Über das Buch
Im Luchterhand Jahrbuch der Lyrik 1989/90 hat Matthias Politycki mit der Gegenwart abgerechnet. Jetzt legt er das Gegenstück vor: hundert Gedichte, die seine Vorstellung von „Artistik“ demonstrieren. Die Spannweite reicht von Francois Villon bis zu den Rolling Stones, von chinesischer Lyrik des Mittelalters bis zu den „starckdeutschen“ Gegenwartsversen eines Matthias Koeppel. Alle Gedichte aber haben eines gemeinsam: die perfekte Form. Polityckis Anthologie ist eine bewußt einseitige Programmschrift. Sie propagiert eine „Neue Äußerlichkeit“, die natürlich alles andere als neu sein will.
Zwei Besonderheiten unterscheiden die Hundert Gedichte von herkömmlichen Anthologien: Politycki versucht mittels der Aneinanderreihung von Gedichten in sechs Kapiteln, „Geschichten“ zu erzählen. Obszönes steht deshalb neben Groteskem, barocke Todesbetrachtung und romantische (Alp-)Träumerei neben Großstad- und Kneipenvisionen. Die ungewöhnliche Abfolge, die aus dem Neben- ein Miteinander von Gedichten macht, soll die betuliche Langeweile verhindern, die üblichen Anthologien anhaftet.
Und Politycki hat sich noch eine kleine Bosheit erlaubt: Unter die hundert notwendigen Gedichte hat er ein überflüssiges gemischt. Dieses erscheint zwar auf den ersten Blick „perfekt“, enttarnt sich aber bei mehrmaliger Lektüre als Platitüde. Es liegt beim Leser, dieses Gedicht zu finden.
Die Anthologie enthält maximal drei Gedichte der folgenden Autoren:
Pierre Albert-Birot Hugo Ball Charles Baudelaire Gottfried Benn Ernst Blass Paul Boldt Bertolt Brecht Clemens Brentano Lewis Carroll Max Dauthendey Hans Magnus Enzensberger Joseph von Eichendorff Günter Bruno Fuchs Wolfgang Gehringer Stefan George Robert Gernhardt Johann Wolfgang von Goethe Iwan Goll Tereza Graw Andreas Gryphius Ferdinand Hardekopf Friedrich Hebbel Heinrich Heine Max Herrmann-Neisse Georg Heym Bettina Hirschberg Hugo von Hofmannsthal Friedrich Hölderlin Ulrich Horstmann Mick Jagger Ernst Jandl Franz Kafka Gottfried Keller Wilhelm Klemm Matthias Koeppel Karl Krolow Nikolaus Lenau Li Bai Alfred Lichtenstein Stéphane Mallarmé Matsuo Bashõ Walter Mehring Conrad Ferdinand Meyer Christian Morgenstern Eduard Mörike Mynona Wolf von Niebelschütz Friedrich Nietzsche Heinrich Nowak Nyûdô Saki-no Dajôdaijin Harry Oberländer Albrecht Oldenbourg Francesco Petrarca Jacques Prévert Man Ray Christa Reinig Karl Riha Rainer Maria Rilke Arthur Rimbaud Joachim Ringelnatz Herbert Rosendorfer Thomas Rosenlöcher Peter Rühmkorf Friedrich Schlegel Kurt Schwitters Ernst Stadler Georg Trakl Karl Valentin Paul Verlaine François Villon Friedrich Theodor Vischer Johann Heinrich Voß Ror Wolf
Leseprobe
Form ist Wollust!
Aus der Vorrede zur Anthologie „Hundert notwendige Gedichte. Und ein überflüssiges“
(…) „Das Gegenteil von gut ist gut gemeint“ – dieser Stoßseufzer muß Odo Marquard bei der Lektüre zeitgenössischer Lyrikalmanache entfahren sein. Falls er nicht gleich selbst aus der Haut gefahren ist … Und das alles wegen eines verhängnisvollen Wandels im Selbstverständnis der Lyriker gegen Ende der sechziger Jahre; Versemachen wird von von ihnen seither bloß im Ausnahmefall noch als „Quadratur des Kreises“ (Rolf Dieter Brinkmann) betrieben, ist in der Regel zur Notation der laufenden Ereignisse heruntergekommen: „Man braucht nur skrupellos zu sein, das als Gedicht aufzuschreiben. […] Man muß vergessen, daß es so etwas wie Kunst gibt! Und einfach anfangen“ (Brinkmann).
Wie, wenn der Leser das aber nicht vergessen hat, nach der Demontage des Wahren (durch Kant) und des Guten (durch die französischen Moralisten, dann wieder durch Nietzsche) verbissen am Schönen festhält? Und nicht zufrieden sich geben will mit den allfälligen „snap-shots“ (Brinkmann), sondern auf der „Quadratur des Kreises“ beharrt, die Brinkmann so großzügig den „berufsmäßigen Ästheten und Dichterprofis“ überläßt? Wie, wenn es gerade das ist, was den Leser abschreckt von der gegenwärtigen Mainstream-Lyrik: daß sie die „Quadratur des Kreises“ noch nicht einmal mehr versucht, statt dessen mit dem Kreis sich begnügt, dem ewigen Um-sich-selber-Kreisen … Und dabei bestenfalls ein leichtes Schwindelgefühl beim Leser hervorruft, eine Verwirrung, eine Übelkeit bisweilen:
Wie stehen Sie zu Zärtlichkeit?
Ja – aber damit man anständig streicheln kann, muß man diese Filzwinkel erst haben.
Sonst kann man es nicht. Also von meinem Gesichtspunkt aus ist es undenkbar,
daß man noch jemals einen Menschen streicheln kann, ohne sich Fettecken
gemacht zu haben.
Kein gutes Gedicht, finden Sie? Zugegeben, zunächst ist’s auch nicht mehr als Frage & Antwort in einem Interview mit Joseph Beuys aus dem Jahr 1979, aber – jeder Mensch ist ein Künstler! Man braucht nur skrupellos zu sein … und selbst ein wenig Hand anzulegen, schon gewinnt der „snap-shot“ lyrische Qualitäten:
Zärtlichkeit
Jaja – aber
damit du wirklich streicheln kannst,
mußt du die Filzwinkel erst haben.
Sonst –
kannst du es nie …
Also
undenkbar,
daß du je einen Menschen noch streicheln kannst,
ohne dir Fettecken –
– verdammt, wie eigentlich soll man sich Fettecken machen? Fettflecken gingen ja noch an – na egal bzw. um so besser, das Gerippe eines kleinen lyrischen Maulaffen haben wir jedenfalls und, ganz nebenbei, eine Bestätigung für Gottfried Helnweins Behauptung: „Von diesem Jahrhundert wird Walt Disney bleiben und nicht der Joseph Beuys.“ (…)
Pressestimmen
„Ein Lehrstück darüber, wie Lyrikanthologien überhaupt noch möglich – und vielleicht gar nötig – sein können.“
(Friedhelm Rathjen, Süddeutsche Zeitung, 17+18/6/92)
„Mit der (…) Anthologie ‚Hundert notwendige Gedichte. Und ein überflüssiges‘ (…) hat (…) Matthias Politycki jenseits der Registiermajorität harmloser Poesiealben eine notwendige Textsammlung herausgegeben, die der seit einiger Zeit wieder verhandelten ästhetischen Formdebatte schwergewichtige Akzente setzt. Endlich wagt es jemand, den glatten Ring der literarischen Wertung zu besteigen und der stromlinienförmigen ‚Flattersatzlyrik‘ (…) provokant den Kampf anzusagen.“
(Michael Lentz, Abendzeitung, 13+14/6/92)
„Dies ist, daran zweifle ich nicht, der Gedichtband des Jahres. (…) Dies und vieles mehr ist der von Überraschungen nur so strotzenden Gedichtsammlung zu entnehmen. In kluger Komposition finden sich bekannte Autoren neben ganz unbekannten (…) – und ein ‚notwendiges Gedicht‘ hat Politycki sogar bei Mick Jagger entdeckt. Das hat einen Titel, den man dieser Anthologie gern nachrufen möchte: ‚On with the Show‘.“
(Ralf Sziegoleit, Frankenpost, 24/4/92)
„(ein) Abenteuerbuch lyrischer Entdeckungen mit einem hinterhältig versteckten Stolperstein“
(Rolf Seeliger, tz, 12/5/92)
„ein Meilenstein in der Lyriklandschaft (…), der seinesgleichen sucht. Wir empfehlen (…) allen das Buch auf das beste.“
(Redaktion Rind & Schlegel. Zeitschrift für Poesie, Nr.22, 1/10/91)
„Gerade bei einigen Texten aus dem Umfeld des Expressionismus kann Politycki einige echte Trouvaillen vorweisen.“
(Michael Braun, Basler Zeitung, 24/4/92)
„ein Buch zum Schmökern, Lesen, Noch-einmal-Lesen und Verschenken – kurzum eine ’notwendige‘ Gedichtanthologie!“
(Michael Bauer, Deutschlandfunk, 11/6/92)
„Der nicht nur konsumieren wollende Leser wird (…) dieser poetischen Fundgrube so schnell nicht wieder entkommen.“
(Michael Lentz, Bayerischer Rundfunk, 24/9/92)