42,195km

42,195kmFragen: Franziska Wolffheim

erschienen/erscheint bei:

Stern Gesund leben, Nr.4/2015.

Entstehungszeitraum: 02/05/2015

Interview

Herr Politycki, über 16 Millionen Deutsche laufen regelmäßig. Was sind die Gründe dafür?

Nur 16 Millionen? Es kommt mir vor, als ob Laufen mittlerweile der Breitensport schlechthin ist. Jeder hat seine eigenen Gründe: Der eine läuft dem Tod davon, indem er sich so lang wie möglich fit hält. Der nächste flieht vor seiner Ehefrau. Der dritte ist körperlich nicht ausgelastet durch das, was er im Beruf zu leisten hat. Der vierte muß sich regelmäßig auspowern, um Druck abzulassen. Der fünfte … Laufen ist nicht gleich Laufen, die Motivation ändert sich mit den Zielen, die man damit verknüpft.

Was macht für Sie persönlich die Faszination des Laufens aus?

Der Aufbruch ins Unbekannte! Sobald ich in fremden Ländern oder Städten laufe, erlebe ich etwas, das ich als spazierengehender Tourist niemals so erleben könnte. Ehrlich gesagt, beginnt das Unbekannte schon knapp hinter meinem eignen Kiez – nach einem Dreistundenlauf vom Hamburger Stadtrand nach Hause sieht alles für mich anders aus.

Was sind für Sie die intensivsten Momente beim Laufen? Der Zeitpunkt „wenn der Daseinsrealismus ins Transzendente kippt“?

Am intensivsten erlebe ich das Laufen in der Gemeinschaft mit meinen Laufkumpeln – erst wenn ich ein Erlebnis teilen kann, kann ich es so richtig genießen. Ins Transzendente hingegen läuft man nach meiner Erfahrung nur alleine, in absoluter Stille und Welteinsamkeit. Aber das passiert leider viel zu selten.

Warum sind so viele Manager vom Marathon fasziniert?

In unserer infantilisierten Eventgesellschaft ist Marathon eine der wenigen Veranstaltungen, die ihrem Wesen nach ernst, ja, todernst ist. Man lasse sich von den kostümierten Clowns auf der Strecke nicht täuschen! Hier geht es ums Ganze, hier muß man den Schmerz und sich selbst überwinden, um das Ziel zu erreichen. Manager glauben wahrscheinlich – als strukturierte Denker, von denen auch im beruflichen Alltag Durchsetzungskraft erwartet wird –, für die Anforderungen eines Marathons besonders geeignet zu sein.

Wie hängen Ausdauerlauf und Berufserfolg zusammen?

Auf Ausdauer zu trainieren ist etwas grundsätzlich anderes, als sich durch Joggen fit zu halten. Da geht es um Einteilung der Kraft, um hartnäckige Zielverfolgung, um einen Trainingsplan, der unter allen Umständen einzuhalten ist, also um Disziplin und Willensstärke. Die landläufige These besagt, daß diese Tugenden auch im Berufsleben zum Erfolg führen; man könnte den Spieß aber auch umdrehen und behaupten, daß ohnehin nur diejenigen zum Marathon finden, die diese Tugenden mitbringen.

Der Frankfurt Marathon hat eigens eine Sonderwertung „Marathon-Manager“ eingerichtet. Eine Studie besagt: 60 Prozent der teilnehmenden Läufer treiben Ehrgeiz und Disziplinlust an den Start. Aus Gesundheitsbewusstsein sind 21 Prozent dabei. Und nur 15 Prozent, weil es ihnen Spaß macht. Wie beurteilen Sie diese Aussagen?

Derlei Statistiken glaube ich erst, wenn ich sie selbst gefälscht habe. Wer läuft denn aus „Gesundheitsbewußtsein“ ausgerechnet einen Marathon? Oder aus „Spaß“? Ich kenne jedenfalls niemanden. Marathon ist eine Herausforderung, die man bewältigen will, mindestens mit Anstand und idealerweise sogar mit Bestzeit, da sind selbst „Ehrgeiz und Disziplinlust“ nur Mittel zum Zweck. Der Zweck ist Eintritt in eine andere Dimension.

Welche Rolle spielen Schmerz und die mentale Auseinandersetzung mit den eigenen Grenzen beim Laufen?

Einen Marathon durchzulaufen, erfordert mindestens so viel mentale wie physische Härte; schon während der Trainingswochen kommt man immer wieder an seine Grenzen und versucht, darüber hinweg zu laufen. Das kann zur Verbissenheit führen, es gibt (Freizeit-)Läufer, bei denen dreht sich fast das ganze Leben ums Laufen. Irgendwann wird man aber auch den Grenzerfahrungen eine Grenze setzen.

Wie wichtig ist die richtige Ernährung als Vorbereitung für das Laufen bzw. während des Laufes?

Gut bzw. richtig gefüllte Energiespeicher sind Grundvoraussetzung eines erfolgreichen Rennens. Aber auch hier kann man übertreiben, manche Läufer entwickeln ein Ernährungsbewußtsein wie sonst allenfalls Frauen mit einer Eßstörung. Für Marathon zu trainieren sollte auch heißen, den eignen Perfektions- und Selbstoptimierungswahn zu begrenzen – jeder muß selbst herausfinden, welche Ernährungsregeln er noch mit Lust befolgen kann und welche nicht.

Was bedeutet Ihnen die magische Zahl „42,195“, die Sie als Buchtitel gewählt haben?

42,195 Kilometer, das hat ja Zatopek so schön auf den Punkt gebracht, sind schon ein bißchen lang. Nur mit Lust und Laune lassen sie sich nicht bewältigen. In der schieren Zahl steckt weit mehr als eine Längenangabe, nämlich ein Lebenskonzept.

Es gibt jedes Jahr unzählige Fitnesstrends. Warum hat das klassische Joggen und der Langlauf immer noch so viele Anhänger?

Joggen ist einer der simpelsten Ausgleichssportarten für Leute, die sich fit halten wollen, und das wollen heute viel mehr als noch vor 20 Jahren. Ein Marathonläufer hingegen ist kein Jogger, er läuft für andere Ziele und demnach auf andere Weise. Läufer gibt es wesentlich weniger als Jogger, man darf beide Sportarten nicht einfach gleichsetzen, nur weil bei beiden gerannt wird.