„Als Ästhet ist man immer auch schon Moralist“

„Als Ästhet ist man immer auch schon Moralist“Interview: Stephanie Waldow

erschienen/erscheint bei:

St. Waldow (Hg.): Ethik im Gespräch. Bielefeld (transcript) 2011.

Entstehungszeitraum: 19/09/2010

Interview

Sie haben mehr als ein Dutzend Auszeichnungen und Stipendien erhalten. Welche Bedeutung haben die Preise für Sie?

Keine ganz geringe. Nicht so sehr wegen ihrer finanziellen Dotierung, sondern wegen der Anerkennung, die damit verbunden ist. Ich freue mich darüber, daß es jenseits der professionellen Kritiken und persönlichen Leserbriefe ab und zu auch etwas Drittes gibt, in dem sich die Auseinandersetzung mit einem meiner Bücher widerspiegelt. Beim „Preis der LiteraTour Nord“ haben wir es überdies mit einer hochkarätigen Jury zu tun und mit dem Votum des Publikums: Auf all diesen verschiedenen Ebenen Stimmen zu erhalten, ist schon etwas Besonderes. Im übrigen habe ich gar nicht so viele Preise bekommen, eher Stipendien, oft verbunden mit Einladungen ins Ausland oder auch mal auf ein Kreuzfahrtschiff als „writer in non-residence“; ohne diese Einladungen hätte ich wahrscheinlich vieles nie kennengelernt – und vieles nie geschrieben.

Einige Kritiker attestieren Ihnen, in der Tradition einer Altherren-Riege zu schreiben – Sie werden in einem Atemzug genannt mit Martin Walser und Philip Roth. Ein Kompliment oder ein Affront?

In der Kritik, auf die Sie anspielen, wurde mir dies zweifelhafte Kompliment ja vor allem aus rhetorischen Gründen gemacht – um zunächst einmal die Befürchtung zu äußern, in der „Jenseitsnovelle“ würden die sattsam bekannten Altherrenphantasien abgehandelt, einfach deshalb, weil sich darin ein älterer Privatdozent in eine jüngere femme fatale verliebt. Besagte Kritik lobte dann umso mehr, daß es trotz dieser oberflächlichen Parallele um etwas ganz anderes geht. – Wenn Sie mich allerdings ganz grundsätzlich gefragt haben, so wäre die Tatsache, im selben Atemzug mit Philip Roth genannt zu werden, zweifellos ein Kompliment. Bei Walser bin ich mir nicht ganz so sicher. – Und noch eine Spur grundsätzlicher: Jeder Schriftsteller steht in einer Tradition, in seiner Tradition. Nicht zuletzt, um herauszubekommen, wo ich möglicherweise stehe, habe ich recht lange Germanistik studiert; diese je eigene Tradition ist ja ein Schriftstellerleben lang die Basis, die Trittfläche, um von dort beherzt nach vorne zu schreiten – und dabei am Ende vielleicht einen Zentimeter Neuland gewonnen zu haben.

Früher stand für Sie eher die Form im Vordergrund beim Schreiben, heute mehr der Inhalt…

Nach meinen ersten Publikationen hat man mich in den Medien als experimentellen Autor etikettiert. Da war ich, ehe ich’s mich versah, in der Schublade von Joyce und Arno Schmidt gelandet. Doch da gehörte ich gar nicht hin; man kann ja auch mit einem feineren Werkzeugkasten experimentieren und scheinbar konventioneller erzählen, das sind im Grunde viel schwierigere Experimente als die, die man gleich auf den ersten Blick erkennt. Immerhin wurde ich in den folgenden Jahren auch mit reichlich anderen Autoren verglichen, nicht selten mit welchen, die ich gar nicht kannte. Dennoch sind solche Versuche einer Einreihung in die literarische Tradition legitim, ein Kritiker sieht oft mehr als man selber; es kommt halt auf den Kritiker an und darauf, was er sehen will.

Nun haben Sie damit ja dann auch gleich bewiesen, daß Sie mehrere Textformen meisterlich beherrschen. Sie haben Essays geschrieben, Gedichte, Romane, eine Novelle. In welcher fühlen Sie sich am ehesten zu Hause?

Ich komme eigentlich von den Gedichten her, aber „zu Hause fühlen“? Oft fühle ich mich jahrelang in meinen Stoffen überhaupt nicht zu Hause – bis zu dem Punkt, wo die Beschäftigung damit umkippt, wo plötzlich Schluß sein muß mit Vorarbeiten und Notaten, wo die Verzweiflung über den Stoff so groß ist, daß ich ihn nicht länger verdrängen kann. Jedenfalls funktioniert es bei der Prosa so.

Geht eigentlich Lyrik und Prosa zeitgleich oder sind es immer so Phasen, in denen Sie Lyrik schreiben und dann wieder Prosa?

Nein, das geht bei mir durcheinander oder eigentlich nebeneinander, nicht zuletzt hängt es auch von der ganz konkreten Lebenssituation ab. Im Ausland erwischen mich die lyrischen Impulse, statistisch gesehen, öfter – man ist halt weit weg von zu Hause, hat Hunger oder Sehnsucht, wird womöglich gerade mal wieder von den Einheimischen gequält, und dann regnet es auch noch. Reisen ist über weite Strecken eine emotionale Achterbahnfahrt, und wenn mir gar nichts mehr hilft, hilft am Ende nur noch ein Gedicht. Mit ein paar Worten geht es los, die sich rhythmisch ineinander verhaken, schon bin ich vom schieren Sound der Sprache gefangen. Letztlich vollkommen irrational, der ganze Vorgang; aber wenn das Gedicht erst einmal in Rohform notiert ist, geht es mir eigentlich immer besser. – Alle paar Jahre gibt es natürlich auch noch den lyrischen Hochbetrieb, wenn ich an einem konkreten Gedichtband arbeite: Da putzt man zunächst nur an all dem herum, was man über die Jahre notiert hat, und plötzlich entstehen daneben ganz neue Gedichte, die mit den alten überhaupt nichts zu tun haben. Als ob da so ein lyrisches Schwungrad auf Touren gekommen wäre.

Ihr Gedichtband „Die Sekunden danach“ hat vieles im Gepäck: Von sehnsüchtig bis ironisch. Er ist aber auch total komisch. Woher haben Sie die Slangausdrücke? Gehen Sie oft in Dönerbuden und Eckkneipen? Oder reicht es dafür, auf der Straße genau hinzuhören?

Genau hinzuhören, das ist ja fast schon die Haupttätigkeit des Schriftstellers! Und wenn ich es nicht immer selber getan haben sollte, dann haben es eben meine Freunde getan. Oder die Freunde der Freunde. Ein Schriftsteller, der die Stoffe nur aus sich selbst heraussaugt, ist eine traurige Existenz. Daß wir einen Großteil unsrer Zeit in unsrer eignen Gesellschaft verbringen müssen, ist schon schwierig genug. Das Schöne an diesem Beruf ist dagegen, daß wir im Vorfeld der Niederschrift mit allen möglichen Fachleuten, vor allem aber auch mit unseren Freunden die Sache planen und oft bis ins Detail besprechen können. Ich würde das gerne als „Soziales Dichten“ bezeichnen, auch als Seitenhieb auf das Klischee des Elfenbeinturms, in dem unsereiner ja gerne noch gesehen wird. Seien wir mal ehrlich, man kann sogar bei Gedichten – natürlich nur bis zu einem gewissen Punkt – zusammenarbeiten, und oft bringen uns die Anregungen der anderen erst auf die eine, die entscheidende Idee. – Was aber die Slangausdrücke betrifft, oder sagen wir lieber: die Kreationen der Umgangssprache, die sind meines Erachtens Gold wert, gerade sie ermöglichen uns doch, über den Umweg der „niederen“ Ausdrucksweise „hohe“ Themen anzuschneiden, die ansonsten nur noch nach hohlem Pathos klängen. Abgesehen davon, behandeln Gedichte ja nicht immer nur die letzten Urgründe des Seins, sie sind Kaleidoskopstücke unseres ganz normalen Lebens, bringen uns auch in unsrer tagtäglichen Beschränktheit auf den Begriff, als Alltagsmensch, nicht nur als Überflieger mit Kurs auf die ewigen Werte.

Inspirieren sich Prosa und Lyrik bei Ihnen sich gegenseitig?

Nein. Ein Gedicht entsteht bei mir immer unfreiwillig, im falschen Moment, aus einem ganz spezifischen Anlaß. Wenn es die Kraft hat, den Anlaß durch Worte zu bannen, zu heilen, jedenfalls erträglich zu machen, dann hat es zunächst mal seine Hauptaufgabe erfüllt – nämlich für mich. Damit ist es dann aber auch schon wieder weg! Und wird nicht selten erst nach Jahren wieder hervorgeholt, zwecks kritischer Sichtung, ob seine „Heilkraft“ vielleicht auch für andere taugt, meist muß ich dann allerdings noch mal ganz von vorne ran. Also dieser allererste Schub, der ist gewissermaßen selbsttherapeutisch; alles andere ist Arbeit und am Ende, im Idealfall, vielleicht auch mal etwas, das einem anderen hilft: Gedichte sind womöglich kleine, sehr persönliche Hilfeschreie, aber solche, die am Ende anderen helfen. – Bis auf den allerersten irrationalen Schub läuft es bei der Prosa hingegen anders, da ist am Anfang eine Idee, eine Situation, ein Thema, das einen nicht mehr losläßt, und dann wühlt man sich gezwungenermaßen Schicht für Schicht tiefer hinein in den Stoff. Übrigens ist die Form von Anfang an klar; ob es ein Roman wird, eine Geschichte, ein Drama, ein Essay, steht mit dem ersten Satz fest. Die Frage ist eher „Wird’s überhaupt? Komm ich durch?“

„In 180 Tagen um die Welt“ ist ja ein Schelmenroman. Ich suche in dem Buch immer noch die Stellen, die wahr sind und die, die es nicht sind…

Das ist im Nachhinein selbst für mich schwer zu unterscheiden, die höhere Wahrheit liegt ja oft in der Lüge. Oder zwischen den Zeilen. Mein Lektor hat bei der Lektüre des Manuskripts über viele Passagen den Kopf geschüttelt, nach dem Motto „Das glaubt dir kein Schwein“. Dabei waren es in der Regel ausgerechnet die Passagen, die direkt von der Wirklichkeit inspiriert waren. Die völlig frei erfundenen Stellen hatte der Lektor hingegen alle für „wahr“ oder zumindest für „wahrhaftig“ genommen. Dort, wo man lediglich mit der eigenen Phantasie arbeitet, ist man halt viel vorsichtiger beim Erfinden. Die Wirklichkeit in ihrer hahnebüchenen Absurdität übertrumpft die Phantasie oft bei weitem.

Wie viel Fiktion braucht ein Roman? Wann immer Parallelen zwischen einer Romanfigur und dem Autor auftauchen (zum Beispiel Hinrich Schepp und die Universitätskarriere). Da fragt man sich, wie viel Autobiografie steckt in so einem Text, was von diesen Schilderungen haben Sie selbst erlebt?

Wenn man es so angeht, wäre beinah alles autobiographisch, denn irgendwelche Bezüge zu seinen Figuren muß man ja haben, sonst könnte man sie ja gar nicht glaubwürdig schildern. Von diesen oberflächlichen Gemeinsamkeiten einmal abgesehen, ist es aber bei mir genau andersherum: Ich möchte nicht autobiographisch schreiben, jedenfalls nicht, bevor ich aus einem veritablen Alter auf mein Leben zurückblicken und dabei zu anderen Erkenntnissen kommen könnte als heute. Aber authentisch schreiben will ich natürlich schon! Diese Authentizität, diese Glaubwürdigkeit jenseits des schieren Plots, diese Lebenserfahrung, die in Adjektiven und Adverbien in einen Text einfließt, ist es ja vor allem, die einen nachhaltigen Sog beim Lesen erzeugt. Und den kann ich wiederum nur erzeugen, wenn ich eine gewisse Schnittmenge mit meinen Figuren habe. Auch mit den Nebenfiguren, mit allen Nebenfiguren. Aus diesem Grund fahre ich an meine Schauplätze, ob nach Kuba oder sonst wohin, lebe dort eine Weile, auch wenn ich für meine Schnittmenge an Erfahrung recht unvergnügliche Recherchen anstellen muß. Bei „Herr der Hörner“ hatte ich zwar den Stoff, aber sonst nichts, das war entschieden zu wenig! Ich mußte zunächst mal Spanisch lernen, nach Santiago de Cuba zurückkehren, eine Wohnung anmieten… Vor allem musste ich dann aber auch in die afrokubanischen Kulte rein, die in diesem Buch eine zentrale Rolle spielen – für einen Roman muß man manchmal ganz schön weit gehen. Im nachhinein klingt es recht flott, wenn man sechs, sieben Monate auf Kuba gelebt hat. Aber es klingt nur für den so, der zu Hause geblieben ist.

Dagegen war die Reise auf der MS Europa sicher ganz angenehm. Die Verpflegung ist gesichert, man kann sich an den gedeckten Tisch setzen und man hat sein Bett.

Aber psychologisch gesehen war es meine härteste Reise. Es gibt an Bord solche und solche; die einen machen die Reise zum Vergnügen, die anderen dagegen…

Aber dafür hat man prima Verpflegung, oder?

Aber man kommt nach einer gewissen Zeit an einen natürlichen Sättigungsgrad, weil man so häufig Hummer oder Kaviar gar nicht will! Man lernt, zu den Champagner-Empfängen und Gala-Diners gar nicht erst hinzugehen, stattdessen beispielsweise ein paar Decks höher, wo’s zur gleichen Zeit Pizza gibt. Und selbst das reicht manchmal nicht; ich weiß noch, wie ich in Puerto Rico vom Schiff runter- und dann einfach so lange geradeaus ging, bis ein McDonald’s auftauchte. Und ich blieb beileibe nicht der einzige, der sich dort ein „Menü“ reinzog. Eine Weltreise bedeutet ja nicht zuletzt, im Lauf der Zeit zu erkennen, was man alles nicht braucht.

Wo wir bei MS Europa sind: In dem Buch – ist da die gleiche Frau Kipp-Oeljeklaus, die schon der Schattschneider („Weiberroman“) getroffen hatte?

Daß Sie das bemerkt haben!

Wie kommt sie da rein? Begleiten die Figuren Sie so lange?

Manche schon. Kristina Kipp-Oeljeklaus kommt ja auch schon in „Herr der Hörner“ vor, als Frau, die von ihrem Mann Knall auf Fall verlassen wird. Wenn man die drei Romane nebeneinanderhält, bekommt man eine gewisse Ahnung von ihrem Lebenslauf – und vielleicht hat der eine oder andere Leser seinen Spaß daran. Jedenfalls erhält die Figur sukzessive eine ganz andere Dimension. Auch bei der „Jenseitsnovelle“ habe ich übrigens eine Figur eingebaut, die man schon aus einem anderen Roman kennt …

Wie entstehen eigentlich die Figuren? Und wie bekommen die ihre Namen? Gibt es da so was wie ein „nomen est omen“?

Jedenfalls entstehen sie zunächst mal vollkommen namenlos; möglichst bald den richtigen Namen für sie zu finden, ist eine regelrechte Haupt- und Staatsaktion! Am meisten geholfen hat mir bislang die „wirkliche Wirklichkeit“, ich glaube, alle meine Figuren kommen darin namentlich vor. Je länger man an einem Namen herumbastelt, desto schlechter wird er, jedenfalls ist das meine Überzeugung, einen Namen muß man finden. Bloß wo? Zunächst einmal mache ich das, was viele andere Schriftsteller auch tun: Namen auf Grabsteinen, auf Klingelknöpfen, in Telefonbüchern und im Bekanntenkreis sammeln. Und zwar vollkommen unabhängig von irgendwelchen Büchern, ich führe ständig eine entsprechende Datei, sozusagen auf Halde. Da das manche meiner Freunde wissen, liefern sie mir mitunter besonders komische Namen frei Haus. Bei einem Schelmenroman natürlich höchst willkommen; bei einer „Jenseitsnovelle“ hingegen überhaupt nicht, dafür braucht man ja Namen, die gerade nicht komisch klingen. Andererseits aber auch nicht beliebig. Oft kommt mir dann der Zufall zur Hilfe. Beispielsweise bei Hinrich Schepp, der Hauptfigur aus der „Jenseitsnovelle“: Da im Text Böcklins „Toteninsel“ eine gewisse Rolle spielt, bin ich eines Tages nach Berlin in die Alte Nationalgalerie gefahren, um das Bild im Original anzugucken. Und zwar gemeinsam mit einem befreundeten Maler. Auf dem Rückweg nach Hamburg war der Zug überfüllt, wir mußten in den Bistro-Wagen, mußten ein Bier trinken, uns dabei über die „Toteninsel“ unterhalten und wer es in meinem Text damit zu tun bekommen würde. Als ich sagte, daß ich für diese Figur noch keinen Namen hatte, meinte der Maler spontan: „Also der Totengräber bei uns im Ort, der hieß Schepp.“ Das hat mich auf der Stelle gepackt. Oder nehmen Sie Ingo Jonatzki aus „In 180 Tagen um die Welt“: Ich hatte in der Zeit der Niederschrift eine Meniskus-OP und war anschließend beim Krankengymnasten. Einem phänomenalen Krankengymnasten namens Ingo Jonatzki. Als ich ihn fragte, ob ich seinen Namen haben dürfe, hat er sofort zugestimmt. Für mich ist es einfach ein Segen, daß Leute Spaß daran haben, bei meinen Büchern mitzumachen, manchmal mit ihrem Namen, manchmal auch mit ihren Anekdoten – ihnen allen verdanke ich viel.