Aufbruch ins Offene

Aufbruch ins OffeneMartin Hoffmeister im Gespräch mit dem Schriftsteller Matthias Politycki

erschienen/erscheint bei:

Stiftung Frauenkirche Dresden (Hg.): Leben in der Frauenkirche. Frauenkirchenmagazin. Ausgabe Mai-August 2024.

Entstehungszeitraum: 09/03/2024 - 11/03/2024

Interview

Herr Politycki, in der medialen Öffentlichkeit nimmt man Sie in einer Doppelrolle wahr. Zum einen als Autor, der die ganze publizistische Bandbreite zwischen Roman, Erzählung, Gedicht, Essay, Kommentar und Rede bedient, zum anderen als Debatten-Initiator oder -Antreiber. Gehören diese Rollen zusammen, oder muß man sie unabhängig voneinander betrachten?

Einen Großteil meines Lebens habe ich geglaubt, ich sei kein politischer Autor. Das genuin Literarische war – und ist – mir weitaus wichtiger. Es gab mal eine Zeit, als mich Günter Grass gern für den SPD-Wahlkampf gewonnen hätte, aber ich bin nun mal der Auffassung, der angemessene Platz für einen Schriftsteller ist der zwischen allen Stühlen. Andrerseits wuchs ich in einer Zeit auf, in der Denkräume immer offener und weiter wurden, und ich beobachte mit Sorge, daß sie sich jetzt wieder verengen. Und daß Debatten immer emotionaler und teilweise bereits irrational geführt werden. Nachdem ich meinen „Abschied von Deutschland“ veröffentlicht hatte, wurde ich oft eingeladen, an solchen Debatten teilzunehmen, plötzlich wurde es auch für mich an der Zeit, ganz klar Stellung zu beziehen. Bisweilen fließt das dann in meine literarischen Texte ein.

Wer die heutige Literaturszene in den Blick nimmt, erkennt eine deutliche ebenso wie befremdliche Tendenz zum Mainstream, ein dem Zeitgeist und entsprechenden Narrativen verpflichtetes Schreiben, das inhaltlich und sprachlich nicht mehr den originären, den solitären Zuschnitt sucht. Die Debatten um das, was literarisch und sprachlich erwünscht ist, gerieren sich zunehmend dogmatischer. Was zu denken gibt. Wie steht es in diesen Tagen um die Maßstäbe zur Beurteilung von Literatur und den Blick auf das Wesentliche?

Ich glaube, die Interessen haben sich verschoben, Literatur ist in unsrer Gesellschaft kein Leitmedium mehr. In unsrer Jugend war es undenkbar, ohne Buch ins Bett zu gehen, und über das Gelesene haben wir häufig miteinander diskutiert. Angeregt von Literatur, lernten wir in unseren Diskussionen, mit konträren Meinungen umzugehen – vielleicht die urdemokratische Fähigeit schlechthin. Es ging nicht darum, zu gewinnen, und schon gar nicht um klare Kante zu zeigen, im Gegenteil. Jeder der Beteiligten empfand es als Gewinn, sich auszutauschen. Heutige Debatten spiegeln eher den transintellektuellen Zustand, in den unsre Gesellschaft eingetreten ist. Es geht nicht mehr um das bessere Argument, sondern um die heftigere Empörung – im Grunde das Ende einer Gesprächskultur. Und vielleicht ja auch einer Kultur ganz generell. Was die Beurteilung von Literatur betrifft, spielen formale Kriterien kaum noch eine Rolle, hingegen Sympathie mit der Hauptfigur oder eben Antipathie. Kunstvoll beschreibende Passagen werden als störend empfunden, es zählt allein der Plot. Ein offenes Ende gilt als unbefriedigend. Eine derart simple Leselust kann KI jetzt schon befriedigen.

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