Das Erschauern vor dem Leben
Das Erschauern vor dem LebenGespräch mit Martina Scherf
Süddeutsche Zeitung, 13/9/05
HAMBURG Der Schriftsteller Matthias Politycki hat den „Weiberoman“ oder „Ein Mann von vierzig Jahren“ geschrieben und damit, recht erfolgreich, auch das Lebensgefühl unserer Zeit wiedergespiegelt. Heute erscheint „Herr der Hörner“, sein neuer Roman (Hoffmann und Campe Verlag, 735 Seiten, 25 Euro), der im Süden Kubas spielt, wo man noch mit Santeria, Voodoo und anderen Kulten lebt.
Politycki hat fast ein halbes Jahr auf Kuba gelebt und recherchiert. Der Roman beginnt als klassische Liebesgeschichte, taucht dann in eine dunkle Welt ein, in der man sich als Mitteleuropäer geradezu als Mitglied einer untergehenden Hochkultur vorkommt. „Herr der Hörner“ – auf Kuba eine Umschreibung für den Teufel – steht bereits auf der Liste der 20 besten Romane, die für den Deutschen Buchpreis vorgeschlagen sind. Wir sprachen mit Politycki über das alte Europa, junge Kulturen und politische Unkorrektheiten.
ABENDBLATT: Unsere westeuropäische Gesellschaft wirkt erschlafft neben Kulturen wie der kubanischen, wo man noch die Wildheit des Willens spüren kann – ist das auch ein Ergebnis Ihrer Recherchen?
MATTHIAS POLITYCKI: Nicht nur das. Aufgrund der schieren Erfahrung des Alltagslebens dort, das meist keinerlei Rücksicht auf die mo-ralischen oder ästhetischen Standards eines Alten Europäers nimmt, habe ich viel über unser eignen Werte gelernt. Habe begriffen, wie privilegiert wir hier in Mitteleuropa nach wie vor sind, welch wunderbare Ausgangsbedingungen fürs Leben wir haben. Und wie wenig wir oft daraus machen.
ABENDBLATT: Sie haben sich dort mit Religion und Magie beschäftigt. Hat Sie das verändert?
MATTHIAS POLITYCKI: Als ich ankam, war ich überzeugter Nietzschea-ner; als ich zurückfuhr nach Deutschland, hatte ich – im Grunde: widerwillig – begriffen, daß hinter einem gläubigen Leben ein ganz anderes, nicht unbedingt schlichteres Weltkonzept steht. Habe mir eingestehen müssen, daß uns „aufgeklärten“ Quasi-Nihilisten etwas Entscheidendes fehlt. Natürlich können wir stolz auf die humani-sierende Wirkung der Aufklärung sein. Trotzdem sollten wir ge-genaufklärerisches Gedankengut nicht von vornherein lächerlich finden. Schließlich leben wir mit unsrer radikal an ihr Ende be-triebenen Diesseitigkeit auf recht dünnem Boden: Außer Skepsis und Ironie bleibt uns oft nicht genug, das in existentiellen Situationen weiterhilft.
ABENDBLATT: Uns fehlt der Glauben und die Kraft. Was noch?
POLITYCKI: Es kostet ja bereits sehr viel mehr Energie, in einem Land wie Kuba zu überleben. Das fängt damit an, daß es dort keine Neonreklamen, oft nicht einmal erkennbare Geschäftseingänge gibt: Wer etwas Bestimmtes kaufen möchte, muß in der Regel herumfragen, wo es das (vielleicht) geben könnte. Allein dadurch entsteht jede Menge zwischenmenschlicher Kontakt, ein lebhaftes soziales Leben. Und immer spürt man dabei als Außenstehender eine Vitalität, die einen manchmal beängstigt, manchmal aber auch ansteckt. Trotzdem freue ich mich jedes Mal, wenn ich wieder nach Hause komme, möchte nirgendwo sonst leben: Es fehlt uns – im Vergleich zu einem Kubaner – das selbstverständliche, unpathetische Gefühl von Heimat, die Freude darüber, hier und nur hier zu leben. Es ist ja, bei aller Jammerei, noch immer verdammt schön hier! Das sollten wir uns vielleicht etwas bewußter machen, sollten unsere Werte aktiver verteidigen.
ABENDBLATT: Was kann man von vitaleren Kulturen lernen?
POLITYCKI: Zunächst einmal, unterm Deckmantel des „Malerischen“, die Brutalität des Kapitalismus: Alles hat seinen Preis, sofern man mit dem täglichen Mangel leben muß, natürlich auch die Liebe. Dann: eine größere Heiterkeit, eine spontanere Direktheit im Umgang miteinander, ein flexibleres Sich-Anpassen an den Fluß der Dinge. Und schließlich: die Erkenntnis, wie wenig man eigentlich zum Leben braucht, um glückliche Tage zu erleben – im Grunde ja nur ein intaktes soziales Miteinander. Natürlich darf man nicht unterschätzen, daß dieses enge Zusammenleben auch aus Not entsteht.
ABENDBLATT: Aber ist unsre mitteleuropäische Kultur nicht schon am Ende?
POLITYCKI: Hoffentlich nicht! Es liegt an uns, sie immer wieder neu zu beleben und sie gegebenfalls zu verteidigen. Nicht mit Phrasendrescherei von Gutmenschen, sondern mit beherztem Handeln im Alltag. Bloß keine Scheu vor klaren Worten!
ABENDBLATT: Kann man sagen, wir sind verweichlicht?
POLITYCKI: Auf jeden Fall sind wir übertrieben politisch korrekt. Den spielerischen Umgang zwischen Mann und Frau haben wir doch fast schon komplett verloren. Ja, das Zwischenmenschliche ist bei uns ganz generell ziemlich verkrampft. Mein kubanischer Vermieter etwa wollte sich partout nicht als „Farbiger“ anreden lassen, wollte schlichtweg als Neger bezeichnet werden, „als was denn sonst?“. Wenn die Bezeichnungen so unverstellt einfach sein dürfen, entdeckt man auch wieder die Vielfältigkeit der Realität: Mindestens zehn verschiedene Haut- und Haar-Typen, die sich dem politisch korrekten Betrachter alle nur als „Farbige“ zeigen, haben auf Kuba exakte Namen und dadurch auch ihre ganz spezifische Präsenz im Alltag. Beneidenswert! Unser schablonisiertes Denken dagegen behindert uns gelegentlich gewaltig.