Der schwimmende Gesellschaftsroman

Der schwimmende GesellschaftsromanGespräch mit Birgit Reuther

erschienen/erscheint bei:

Hamburger Abendblatt, 4./5.11.06

Entstehungszeitraum: 31/10/2006

Interview (Kompletter Text)

Matthias Politycki zählt zu den interessantesten deutschen Autoren der Gegenwart. Vor neun Jahren erregte sein „Weiberroman“ Aufsehen. Darin schildert er die tragisch-komischen und stets unglücklich verlaufenden Liebesbeziehungen seines Helden Gregor in den 70er- und 80er-Jahren. Mit „Ein Mann von vierzig Jahren“ legte er kurz darauf eine Fortsetzung vor. 2005 erschien ein weiterer Roman von Matthias Politycki „Herr der Hörner“, eine fesselnde, opulente, sehr genau aber auch witzig erzählte Geschichte, die im Südosten Kubas spielt und in der er Sprachrhythmus und Spannung, Menschenkenntnis und Ironie, nahezu perfekt und untrennbar kombiniert.

Vier Jahre oder auch länger braucht er für jeden seiner Romane: Jeder beginnt mit einer Primärvision, die einschlägt wie der Blitz, „immer zum falschen Zeitpunkt und immer am ganzen Stück“. Was dann folgt, ist harte Arbeit: Recherche, Detailaufnahmen, Dateien mit Versatzstücken füllen, Schreibarbeit.
Für „Herr der Hörner“ lernte Matthias Polityckis Spanisch und verbrachte mehrere Monate in Kuba. Eigentlich war das nicht geplant: „Es hat mich gegen meinen Willen gepackt!“ Die Geschichte war plötzlich da und hat sich ihren Weg gebahnt, musste bearbeitet und aufs Papier gebracht werden.
Eigentlich wollte er ein anderes Buch schreiben. Eins, das er schon seit 20 Jahren schreiben will, für das es längst eine vollständige Gliederung, jede Menge Notizen und einen Vertrag mit dem Verlag gibt. Eins, das sicher irgendwann auch geschrieben wird, sich aber offenbar seine Zeit selbst sucht.
Matthias Politycki ist zweifellos ein Ausnahme-Schriftsteller, der so genau beobachtet wie kaum ein anderer. Der Details wiedergeben kann, dass es dem Leser kalt den Rücken herunterläuft. Der seine Phantasie perfekt bündelt, scharf und witzig formuliert und der sich von Buch zu Buch noch zu steigern weiß.
Im treffpunkt-Interview erzählt er, warum sein Schreiballtag ohne Reisen, ohne Freunde und ohne einen doppelten Espresso am Morgen undenkbar wäre.

treffpunkt: Herr Politycki – wobei stören wir Sie gerade?

M. Politycki: Bei der Steuererklärung, also etwas völlig Banalem.

Sie sind in Hamburg zuhause, aber oft auch unterwegs – viel auf Reisen, häufig auf Lesungen, auch im Ausland. Manche Autoren verbringen den meisten Teil ihrer Zeit dagegen am liebsten nur am Schreibtisch, ungestört. Wie schaffen Sie es, genug Raum für das Schreiben zu behalten?

Wenn ich an einem Buchprojekt dran bin, schreibe ich jeden Tag. Aber ich nehme mein Büro mit, auf einem Laptop kann man im Zug schreiben, auf dem Flughafen, am anderen Ende der Welt. Der Typus „Schreiber am heimischen Schreibtisch“, das bin ich bloß begrenzt; eine erfahrungsgesättigte Literatur kann man meiner Meinung nach nicht schreiben, wenn man sein Leben nur in den eignen vier Wänden verbringt, sein Wissen womöglich nur aus Büchern bezieht. Beschreiben kann man lediglich das, was man bis zu einem gewissen Grad auch selbst erfahren hat, „am eigenen Leib“, vielleicht sogar unter Schmerzen.

Sind Ihnen die Beobachtungen, die Sie in Ihrer direkten Umgebung machen könnten, zum Beispiel nebenan im Café, zu banal?

Nein, aber die Gewohnheit des Sehens stumpft die Wahrnehmungsfähigkeit erheblich ab. Das Wichtigste am Schreiben ist meiner Meinung nach – nicht zu schreiben, sondern zunächst mal: Ungewohntes zu sehen oder das Gewohnte auf ungewohnte Weise. Als einer, der erst einmal erschüttert werden muß, ehe seine literarische Phantasie anspringt, muss ich immer wieder raus aus dem Vertrauten. Also reise ich, vor allem in Asien, Afrika, Lateinamerika.
Allerdings fahre ich nicht irgendwohin, weil ich mir dort direkte literische Anregungen erhoffe – ich habe genug Projekte in Planung, um mich den Rest meines Lebens daran abzuarbeiten. Es geht mir dabei eher um eine Art Grundsensibilisierung; manchmal sind die Erlebnisse in fremden Ländern allerdings so bedrängend, dass ich trotz aller Vorsätze schreiben muss. Inspiriert werde ich in jedem Fall, sei’s konkret, sei’s grundsätzlich; nur am Schreibtisch sitzen, das liefe nicht.

Reisen also als „Schreibantrieb“, als Kontrast zum Gewohnten?

Wobei mir das Gewohnte ja lieb und teuer ist, mein ganz normales deutsches Alltagsleben! Aber der Blick darauf ist ein anderer, wenn Sie wieder dorthin zurückkehren, der Horizont ist geweitet, das Denken flexibler.
Im übrigen bin ich ja nicht ständig unterwegs. Doch auch zu Hause sitze ich nicht nur hinterm Laptop: Seit meiner Schulzeit gehe ich regelmäßig Dauerlaufen – die kleinen Erschütterungen sind dabei eigentlich physischer Natur. Trotzdem komme ich nicht selten mit der einen oder anderen Idee wieder nach Hause.

Jeder andere würde „Joggen“ sagen, Sie sagen „Dauerlaufen“ – vermeiden Sie die englischen Begriffe bewusst?

Warum sollte ich sie verwenden? Die deutsche Sprache bietet so viele Wörter, die die Dinge oft sehr viel bildhafter benennen. Wir kennen sie manchmal schon gar nicht mehr, weil uns der Zeitgeist immer neue Trendvokabeln diktiert, die unsere schönen, präzisen Begriffe verdrängen.

Ihr Sprachgefühl, Ihr stilistischer Anspruch ist in fast jedem Satz Ihrer Bücher spürbar – Leser wie Kritiker wissen das zu schätzen. Sie haben mal gesagt: „Man muss sich entscheiden, ob man zu Lebzeiten der Topautor sein oder in der Literaturgeschichte seinen Platz finden will. Das ist ein ganz anderer Anspruch.“ Sie avancieren gerade ein wenig zum Topautor. Das Zitat könnte nahe legen, dass Sie das gar nicht so begrüßen.

Ich habe mit manchen meiner Bücher unerwarteten Erfolg gehabt, da war natürlich auch Glück dabei, und seitdem kann ich vom Schreiben leben. Damit gehöre ich aber noch lange nicht ins Genre der Beststellerautoren (die ihr einmal gefundenes Erfolgskonzept seriell kopieren); nach wie vor habe ich den Anspruch, mich Buch für Buch weiterzuentwickeln – von der experimentellen Ecke, aus der ich komme, hin zu einer erzählteren, realistischeren, leserzugewandten Literatur, ohne dabei meine Ursprünge zu verraten. Das in etwa wäre die Messlatte, an der ich mich orientiere – der inhaltliche Anspruch, dem Leser einen spannenden Plot zu bieten, der formale Anspruch, jeden einzelnen Satz Wort für Wort lebendig zu machen. Damit fühle ich mich manchmal ziemlich allein; und doch gibt es immer wieder überraschende Gemeinsamkeiten mit anderen Autoren, zum Glück.

Mit denen gemeinsam Sie sich auch gegen andere Schreibstile abgrenzen. Thomas Manns Art zu schreiben bezeichnen Sie als “vormodern” – Autoren Ihrer Generation schreiben anders, sagen Sie. Wie ist das gemeint?

Jede Generation muß das Schreiben neu für sich entdecken, aus einer anderen Stellung zur Literaturgeschichte, einer anderen Gewichtung der bisherigen Traditionslinien. Ein Beispiel: Wir erzählen nicht mehr von innen nach außen, sondern von außen nach innen – wir konzentrieren uns auf die Außenhaut von Figuren und Ereignissen, entwickeln erst im Verlauf des Erzählens aus der Summe derartiger „Äußerlichkeiten“ (die ja immer mit dem Innersten zusammenhängen) ein Persönlichkeitsbild unsrer Figuren. Wer hingegen, wie Thomas Mann, erst einmal lang und breit einen Charakter schildert, ehe er ihn überhaupt in eine Romanhandlung hineinschickt, schreibt schon im Vergleich zu einem Musil vormodern. – Auch bei meinen Generationskollegen wie etwa Jens Sparschuh, Hans Pleschinski oder Burkhard Spinnen geht es von Anfang an gleich hinein in die Handlung; wer als Leser die Zeichen zu lesen weiß, der wird schon merken, dass dahinter von Anfang auch ein komplexes literarisches Konzept steht.

… das beim Schreiben Zeit braucht. Auch darin unterschieden Sie sich von Beststellerautoren, vor allem von den amerikanischen, die jedes Jahr ein neues Werk auf den Markt bringen. Ihr viel beachteter jüngster Roman „Herr der Hörner“ spielt im Südosten Kubas; vier Jahre waren Sie insgesamt damit beschäftigt.

Es wird auch sicher wieder Jahre dauern, bis ein neuer Roman kommt. Oder sogar länger. Eine Romanidee begleitet mich zum Beispiel seit 20 Jahren, den Titel gibt es auch schon: „Samarkand, Samarkand“ – es hätte eigentlich mein zweiter Roman werden sollen. Aber ich bin einfach nicht dazu gekommen, immer wieder schob sich ein anderes Projekt davor. Auch als ich 2001 nach Kuba flog, war ich fest entschlossen, nach dem Urlaub damit anzufangen. Doch dann hat es mich dort gegen meinen Willen gepackt, am vorletzten Tag des Urlaubs trat der „Herr der Hörner“ massiv auf den Plan: Ich hatte eine dieser lästigen Primärvisionen; ehe ich zum Nachdenken kam, stand die Struktur der Handlung fest. Natürlich hatte ich keine Ahnung, wie das je praktisch zu erzählen sein könnte, das Fleisch an meinem Roman-Gerippe fehlte zu diesem Zeitpunkt noch völlig.

An eine klassische Recherche in Archiven, Museen, an den Stätten selbst, war da vermutlich eher nicht zu denken?

Über das, was ich für meinen Roman brauchte, eine Kenntnis der dunklen Seiten Kubas, der afrokubanischen Rituale bis hin zum Menschenopfer, gibt es nicht viel zu lesen. Es half nichts, ich mußte Spanisch lernen und mir dann am Ort des Geschehens eine Wohnung mieten, als Ausgangspunkt aller Recherche: Ich musste mich von der Pike auf ganz systematisch in Themen- und Wissensbereiche hineinarbeiten, um das, was man mit bloßem Auge davon sehen konnte, auch zu erkennen – manch einer meiner Nachbarn kam täglich vorbei, um mich regelrecht zu unterrichten. Der eine fühlte sich eher für die religiösen Themen zuständig; ein anderer fürs Alltägliche, die Rumsorten beispielsweise, der dritte für Musik usw. Nach einiger Zeit wussten sie jedenfalls alle, dass ich an einem Roman schrieb, und unterstützten mich, jeder auf seine Weise, nahmen mich später auch an Orte mit, zu denen Touristen normalerweise nicht kommen.

Die Hauptfigur Broder Broschkus – hat die autobiografische Züge?

Nein, autobiografisches Schreiben ist meine Sache nicht, dazu ist mein Leben viel zu unliterarisch. Eher speise ich den erfundenen Figuren auf ihren erfundenen Lebenswegen manches davon ein, was ich konkret erlebt habe – einen Hunde- oder Hahnenkampf könnte man anders gar nicht authentisch beschreiben.
Wenn man sich auf einen Roman einlässt, führt man gewisse Erlebnisse ja auch erst bewußt herbei, wird zum „teilnehmenden Beobachter“ immer auch auf einer zweiten, einer romanhaften Ebene.

Das geht nicht ohne Berge von Notizen. Wie behalten Sie da die Übersicht?

Man fängt unsortiert an, auf Zetteln; früher landete das alles – zerschnippelt in seine Einzelteile – in den entsprechenden Klarsichthüllen, seit einigen Jahren, verteilt auf zig Dateien, im PC. Den „Herrn der Hörner“ hätte ich ohne Computer gar nicht schreiben können, ohne die Vielzahl an Texten und Subtexten, die man gleichzeitig auf einem Bildschirm geöffnet halten kann. Aber ohne Gliederung geht meiner Meinung nach auch im Zeitalter der Textbausteine und ihrer problemlosen Verschiebung nichts – wer ein Haus bauen will, muss schon beim Kelleraushub wissen, wo später einmal der First sitzen soll. Nicht zuletzt sorgt eine Gliederung auch dafür, die Energien beim Schreiben gleichmäßig zu verteilen, also zum Beispiel nicht nur einen rasanten Anfang hinzulegen, sondern bis zum Schluss immer wieder neue Spannungsmomente zu setzen.

Heute gibt es eine Reihe von guten Ausbildungsmöglichkeiten für angehende Schriftsteller/innen. In den 70er Jahren, als Sie studierten, war das noch nicht so. Wie haben Sie den Weg zum Schreiben gefunden?

Wir hatten als 15-, 16jährige eine Clique, ursprünglich trafen wir uns nur zum Fußballspielen. Dann waren wir eines unschönen Tages plötzlich alle unglücklich verliebt und, wie es das Klischee vorsieht, arbeiteten uns schriftlich daran ab. Abends trafen wir uns und lasen uns unsere Sachen nicht nur gegenseitig vor, sondern nahmen auch dazu wechselweise Stellung; darunter war einer, der mir sogar konkrete Vorschläge machte, wie ich meine Texte verbessern könne – sozusagen mein erster Lektor. Bis ins Studium hinein haben wir uns gegenseitig in dieser kritischen Weise beim Schreiben begleitet.

Was muss eine Schriftstellerin/ein Schriftsteller Ihrer Meinung nach mitbringen, um erfolgreich zu sein?

Primär, glaube ich, ein Gefühl für die Sprache, ein Gefühl für deren musikalische Qualitäten: Ein Schriftsteller muß Sätze von ihrem Rhythmus her denken, ja fühlen können, schon im Stadium der Niederschrift. Ein derartiges Stilgefühl kann man nicht erlernen, man kann es nur haben und dann trainieren.
Dazu käme in meinem Verständnis vom Schriftsteller die Phantasie. Nichts ist auf lange Sicht beengender als selbstreferentielles Schreiben, das eigne Leben immer wieder unter einem neuen Gesichtswinkel ausschlachten zu müssen. Auch Phantasie läßt sich nicht lernen – aber der ökonomische Umgang damit schon.

Wie motivieren Sie sich selbst zum täglichen Schreiben?

Mit einem doppelten Espresso morgens im Bett, und dann gleich noch einem – das kleine Ritual hat meine Frau erfunden, als ich vom „Herrn der Hörner“ fast erdrückt wurde, da ist ja bereits das Aufstehen eine Anstrengung. In solch harten Arbeitsphasen ist bei uns übrigens die ganze Woche mehr oder weniger gemeinsam strukturiert: Am Samstag nachmittag ist dann Abgabe des unter der Woche Geschriebenen – meine Frau ist auch mein erster Leser. Dabei gilt die Abmachung: Zuerst muss gelobt werden, erst danach geht´s ans Eingemachte. Auf diesen einen gemeinsamen Abend arbeite ich die ganze Woche lang hin, darauf freue ich mich, und meine Frau, glaube ich, tut es auch. Denn auf diese Weise wird selbst das Bücherschreiben zu etwas Gemeinsamen, zu etwas, über das man bald jeden Morgen reden kann – beim Espresso zum Beispiel. Das wäre mein Tipp an alle, die schreiben wollen: Ohne die kritische Liebe eines Freundes oder einer Frau geht es auch beim Schreiben nicht.

Herr Politycki, Vielen Dank für das Gespräch!