Die neue Lust, im Netz zu dichten

Die neue Lust, im Netz zu dichtenGespräch mit Daniel Killy

erschienen/erscheint bei:

Hamburger Morgenpost, 11/5/99

Entstehungszeitraum: 18/04/1999

Interview

Das Chaos ist katalogisiert, rubriziert und numeriert. Dramaturgische Splitter eines Romans heißen bei Matthias Politycki Schnipsel. Die Seiten-Sprünge zu seinem neuen Roman „Marietta“ gehen mittlerweile in die Tausende. Allerdings türmen sich die Einfälle des Autors nicht nur auf Kalenderblättern oder Bierdeckeln. Zettels Traum wird im Internet weitergeträumt. Unter http://novel.zdf.de finden sich die Schnipsel im Virtuellen wieder. Doch Politycki archiviert nicht nur im öffentlichen Raum, er dichtet auch – die vorläufige Online-Version seines im kommenden Jahr erscheinenden Romans.
„Novel in Progress“ heißt das Konzept, das Online-Bummlern erlaubt, dem Wohl und Wehe von Polityckis Protagonisten Gregor Schattschneider auf dem heimischen Computer zu folgen.
Daß des Dichters Internet-Gemeinde auch noch die weibliche Hauptfigur Marietta aus einer Riege von Schauspielschülerinnen küren und in einem Parallel-Forum den Roman nach eigenem Gutdünken um- und weiterschreiben durfte, mag für manchen die Grenze zwischen Text und Tinnef verschwimmen lassen.
Für den Autor des erfolgreichen „Weiberroman“ ist der Cyberroman jedenfalls ein interessanter Selbstversuch. Ob und wie das Netz die Literatur oder das Schreiben verändert, darüber sprach Matthias Politycki mit Daniel Killy.

Sie kokettieren ein wenig damit, das Schreiben zu Hause und das Betreuen des Internet-Romans sei doppelte Arbeit…

Das ist leider keine Koketterie. Normalerweise würde es mir reichen, die Schnipsel so lange auf dem Tisch zu verschieben, bis sie so liegen, daß ich beginnen kann zu schreiben. Dann würde der kreative Ausschub während des Schreibens passieren. Jetzt ist ein kreativer Ausschub in einem Zwischenstadium passiert, denn ich habe ja mit der Niederschrift noch nicht begonnen. Andererseits sind die Schnipsel ja keine bloßen Gedankenfragmente mehr, sondern sie sind fürs Internet umformuliert. Früher hatte ich nur die Schnipsel, dann folgte die Niederschrift. Durch das Internet gibt es jetzt mehrere Zwischenstufen. Ob das gut ist für die Erstniederschrift, weiß ich nicht. Das große Abenteuer des Schreibens ist vorbei.

Das Arbeiten hat sich also grundlegend gewandelt?

Für mich ja. Ich kann ja nicht einfach irgendein Stichwort einscannen lassen. Das wäre viel zu kryptisch. Da war zum Beispiel die Sache mit den Kotzmolchen. Auf einem Zettel steht nur das Wort Kotzmolche. Für mich hätte das als Gedankenstütze gereicht. Fürs Internet mußte ich hingegen eine Fabel ausformulieren, die ein kleines Kind tröstet, das sich übergeben hat.

Bei all diesen Mühen: Was gibt Ihnen denn das Internet?

Es nimmt erst mal eine Menge. Die Unbefangenheit. Und auch teilweise die Lust, weil man auf alles gleich ein Feedback kriegt, was man noch gar nicht will. Aber es gibt auch Kreativität, die man in den Roman einbauen kann. Was deutlich die Unbefangenheit bei der Niederschrift stört, ist die Tatsache, daß „Marietta“ schon eifrig in den Medien debattiert wird, obwohl es das Buch noch gar nicht gibt.

Das Medium Internet verändert aber auch die Lesegewohnheiten. Man konsumiert in Häppchen. Lesen denn die Besucher Ihre langen Textblöcke? Drucken sie sie aus?

Ich glaube, daß die Schnipsel fürs Internet geeignet sind. Aber nicht umsonst wird das Projekt, wenn alle Schnipsel chronologisch geordnet sind, im Internet beendet. Der Gesamttext paßt nicht mehr ins Netz. Da ist das Leseverhalten in der Tat ganz anders. Das geht mir ja selber so. Wenn ich vorm Rechner sitze, habe ich latent die durchrasselnden Telefongebühren vor Augen. Da kann man nicht so entspannt lesen. Und außerdem ist die Lust am Aufbau einer neuen Seite höher als die beim Durchlesen. Das ist eine neue Ästhetik. Aber es hat sich weniger an den Lesegewohnheiten geändert als vielmehr an der Hinschaugewohnheit.

Das ist in Wahrheit aber doch ein uraltes Phänomen, die Lust am Lesen durch die Optik zu fördern. Das Internet als moderne Inkunabel… 

Da ist was dran. Aber so weit sind wir noch nicht. Die Frage ist doch, wie sich durch das Netz unsere ästhetischen Prämissen verändern.

Das tun sie meines Erachtens nicht. Sie bedürfen nur unterschiedlicher Transportmittel. Früher Pinsel und Blattgold, heute Netscape Navigator… 

Die „Anmache“ durch einen guten Text ist dieselbe geblieben. Aber die Mittel sind andere.

Der Zeitverlust beim Aufbau einer Seite ist aber keine Dramaturgie, sondern technische Unzulänglichkeit. In Zukunft wird sie einfach da sein. Und damit die Lust am Aufbau vorbei…

Aber ob auch bei höherem Tempo eine neue Form der Literatur dabei herauskommt, steht zu bezweifeln. 

Was ist dann der Sinn dieses Projektes?

Einen traditionell arbeitenden Autor in ein neues Medium zu übersetzen und zu gucken, was dabei passiert. Es zeigt, daß Literatur als Literatur resistent ist gegenüber dem neuen Medium. Das eigentlich Literarische wird immer außerhalb dieses Netzes funktionieren und entstehen. Das Netz ist allenfalls Speichermedium. Das Buch wird es immer geben. 

Sie haben sich also einem Selbstversuch unterzogen als Hiob der Literatur?

Teilweise ja – bei den Hiobsbotschaften, die mir mein Mac zugeraunt hat. Aber natürlich war auch Lust dabei, ich habe mich zum Lustsklaven des neuen Mediums gemacht. Ich wußte wirklich nicht, worauf ich mich einlasse. Das ist das Wichtigste, was sich durch die Arbeit verändert hat: Ein Schriftsteller hat ja die Aufgabe, die Welt zu erleben. Und die große Aufgabe steht jenseits der Bücher parat. Ein Schriftsteller muß viel mehr sein als die Summe seiner Bücher, er muß Leben erfahren. Durch dieses Projekt hat für mich das Objekt Welt noch einen Folder mehr bekommen. Und den habe ich jetzt angeklickt.

Und dabei gelernt?

Das Online-Leben wirkt sich auf das Offline aus. Auch mit neuen ästhetischen Erfahrungen wie dem Klammeraffen (@, Anmerkung der Redaktion). Wir wußten ja gar nicht, daß wir den wichtigsten Buchstaben des Alphabets noch gar nicht kannten. Er wird bestimmt in den Roman einfließen. M@riett@ kann man ja auch mit zwei „@“ schreiben. Der Klammeraffe ist eine extreme Bereicherung meines Wortschatzes. Ich freue mich schon darauf, ein Gedicht auf ihn zu schreiben.