„Diese Ideologisierung treibt viele ins Schweigen“

„Diese Ideologisierung treibt viele ins Schweigen“Gespräch: Anne-Cathrine Simon

erschienen/erscheint bei:

18/2-25/4; in: Die Presse, 3/5/22, zum Interview
Entstehungszeitraum: 25/04/2022 - 25/03/2022

Interview

Aus Ihrem Buch “Mein Abschied von Deutschland” habe ich von einer Broschüre der Stadt Wien erfahren, in der Schafe auf der Donauinsel als “tierische MitarbeiterInnnen” bezeichnet werden – und von der Reaktion des Wiener Bürgermeisters auf eine Nachfrage dazu: Diese Broschüre sei ihm nicht “geläufig” … Wie hätte denn da ein Hamburger Politiker reagiert?

Er hätte wohl geradeheraus erklärt: “Was in unsren Broschüren geschrieben steht, ist selbstverständlich mit dem Senat abgestimmt.” Wohingegen sich sein Wiener Kollege durch beiläufig bekundetes Desinteresse der Genderfrage elegant entzieht.

Und was gefällt Ihnen daran besser?

Die raffinierte Art, mit einem einzigen Wort die ganze heiße Luft aus einer Sache herauszulassen und Fronten gar nicht erst aufzumachen. Im Wienerischen, scheint mir, gibt es unfaßbar viele Möglichkeiten, dem anderen eine Tür zu verschließen und gleichzeitig eine andere zu öffnen. Eine solch facettenreiche Sprachbeherrschung ermöglicht entsprechend komplexe Gedanken, die man andernorts, wo immer Klartext geredet und klare Kante gezeigt werden muß, gar nicht formulieren und also auch nicht denken könnte. Die Art und Weise, wie wir miteinander sprechen, hat immer auch gesellschaftspolitische Relevanz.

Man hat Ihre Übersiedlung von Hamburg nach Wien den wohl meistkommentierten Umzug in der jüngeren deutschen Literaturgeschichte genannt – Sie haben ihn in einem “FAZ”-Artikel mit den zunehmenden Sprachzwängen und der Verengung der Debattenräume begründet und damit eine große Diskussion entfacht. Aber sind Sie da nicht, apropos “tierische MitarbeiterInnen”, vom Regen in die Traufe gekommen?

Von der Traufe in den Regen, würde ich sagen. Natürlich gibt es auch in Wien Dogmatiker, und der geradezu preußische Imperativ, in dem etwa die Uni Gendern zur Pflicht erklärt, reizt ja schon per se zum Widerspruch. Aber im täglichen Leben, anders als in „meinem“ Hamburger Kiez, kaschiert man hier seine Ansichten nicht durch politisch korrekte Vermeidungssprache.

Was ärgert Sie daran?

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