Digitales Marbacharchiv

Digitales MarbacharchivGepräch mit Daniel Killy

erschienen/erscheint bei:

Hamburger Morgenpost, 11/6/99 (?)

Entstehungszeitraum: 18/05/1999

Interview

Als Sie vor zwei Jahren ins Netz aufbrachen, saßen Sie da vor der berühmten weißen Seite bzw. dem leeren Bildschirm, oder waren Sie bereits mitten in einem Romanprojekt und womöglich auch bereits online anderweitig aktiv?

Weder noch. „Marietta“ war ursprünglich als vierter Teil des „Weiberromans“ geplant, Notizen dafür hatte ich seit etwa zehn Jahren gesammelt, und als ich vor zwei Jahren bei Aspekte-Online anfing, stand bereits fest, daß jener vierte Teil nicht etwa bloß als Fortsetzung des „Weiberromans“, sondern als eigenständiger Roman geschrieben werden sollte. Im Netz war ich zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht mal „passiv“ unterwegs gewesen.

Mittlerweile schreiben Sie seit zwei Jahren im Netz – hat sich das eigentlich für Sie gelohnt?

Geschrieben wird sinnvollerweise nach wie vor, meine ich, nur außerhalb des Netzes; trotzdem, es war eine ärgerlich-anstrengend-spannend-vergnügliche Zwangsmodernisierung mit einigen unverhofften Aha-Erlebnissen, deren langfristige Folgen ich für mein weiteres Schreiben noch gar nicht absehen kann.

Heißt das, daß Sie sich auf dieses Abenteuer noch einmal einlassen würden?

Eher nicht. Abenteuer sind nur dann echte Abenteuer, wenn man sie zum ersten Mal absolviert; im Rückblick will es mir vorkommen, als hätten wir – das ZDF-Team, die User, alle anderen, die daran beteiligt waren – mit dieser „Novel in Progress“ etwas Ähnliches erlebt, was vor hundert Jahren die ersten Autofahrer erleben mußten: jede Menge Pannen – und trotzdem oder gerade deshalb einen gewissen Thrill. Schließlich stehen wir ja ganz am Anfang einer Entwicklung, die in wenigen Jahren wahrscheinlich schon derart nahtlos mit unser aller Alltagsleben verwoben sein wird wie eben heutzutage Autofahren. Wenn wir dann, sagen wir im Jahre 2010, auf „Marietta“ zurückblicken, werden wir wahrscheinlich lächeln, weil mittlerweile so viel mehr (und auf so viel schnellere und einfachere Weise) möglich sein wird, daß wir uns kaum mehr vorstellen konnten, wie wir uns damals, Ende der 90er, über unsre kleinen digitalen Erfolge so freuen konnten.

Wo sehen Sie denn die Erfolge – und wo die Mißerfolge?

Ein Erfolg ist es für einen wie mich bereits dann, der vor diesem Projekt überzeugter Offline- und sogar Füllfederhalterschreiber war, wenn Hard- und Software einigermaßen problemlos das tun, was man sich von ihnen erhofft: wenn die Übertragung von Textdateien klappt (ohne daß dabei die Sonderzeichen ins Chinesische übersetzt werden), wenn sich kleine Videosequenzen starten lassen (ohne daß der Rechner dafür eine halbe Stunde Downloadzeit benötigt), wenn schließlich Romangliederung und -text so verlinkt sind, daß man einigermaßen sinnvoll darin hin und her klicken kann.

Gab es denn ausschließlich auf dieser eher technischen Ebene Erfolge?

Oh nein, da war die Mitarbeit der User, der gecasteten Hauptdarstellerin, die Anregungen des Aspekte-Redakteurs, des Graphikers – insgesamt ein enormer Input an Phantasie, so daß ich während der ersten Monate hauptsächlich damit beschäftigt war, jene „Fremd-Phantasien“ nicht zu großen Einfluß auf meine eignen gewinnen zu lassen. Die Arbeit am eignen Schreibtisch ist ja wesentlich einfacher zu organisieren, da stört einen lediglich der eine oder andre Querschläger im Kopf. – Zum Glück erlahmt das diesbezügliche Interesse der User sehr schnell, der Leser will eben vor allem (im eignen Kopf mitphantasierender) Leser sein, und das ist ja auch seit Jahrtausenden sein gutes Recht.

Und die Mißerfolge, wo liegen die?

Vielleicht zunächst darin, daß manches noch nicht so rund, so perfekt zu gestalten war, wie es möglich sein müßte, um das Projekt auf allen Ebenen graphisch so umzusetzen, daß es nicht doch irgendwann zur „digitalen Bleiwüste“ wird – wobei dazu sicherlich ein viel größerer Aufwand, auch finanzieller Art, betrieben werden müßte. Zum anderen wohl darin, daß man sich vom Netz anfangs viel zu viel erwartet: Feedback, Kreativität, wer-weiß-welche Wunderdinge; und dann feststellen muß, daß es doch immer wieder nur vereinzelt Menschen sein können, die sich mittels dieses Netzes kreativ einmischen. Besonders deutlich wird das auf der Müllhalde des Netzes, den Chatforen – die einzige Erfahrung, die wir dort machen mußten, war wohl eher ernüchternd.

Kann es nicht sein, daß die Literatur für dieses Medium einfach nicht so gut geeignet ist bzw. eine geeignetere Internetliteratur erst im Werden ist?

Mag sein. In unserem Fall ging es ja auch nicht um Internetliteratur – die entsteht wohl z.Zt. paradoxerweise eher in den Kreisen bildender Künstler -, sondern um (herkömmliche) Literatur im Netz, um die Dokumentation einer Entstehungsgeschichte, an deren Rändern auch noch ein wenig Interaktivität und Animation sein sollte.

Hat Sie diese Interaktivität am Rande vielleicht sogar beim Schreiben gestört oder hatten Sie darauf – u.U. dämpfenden – Einfluß?

Mein „Einflußgebiet“ beschränkte sich ausschließlich auf das Forum, in dem der Text zu entstehen hatte: die verschiedenen Versionen der Gliederung, die Tages- bzw. Wochenrationen an Romanschnipseln, die Anlage einer Gesamtschnipseldatei, die lineare Ordnung derselben zu einer Vorfassung des Romans; alles andere entstand, natürlich in enger Absprache, unter der Regie von Aspekte-Online bzw. dem Mainzer Literaturbüro. Tatsächlich hat mich das anfangs weniger ge- als verstört – und mir dabei sukzessive die Augen geöffnet für eine Welt, die ich so noch nicht kannte. Das hatte dann natürlich auch wieder einen gewissen Einfluß auf den Roman selbst.

Wollen Sie damit sagen, daß sich Ihr Schreiben im Lauf dieser zwei Jahre geändert hat, Ihr Stil?

Nicht der Stil, denn der entsteht ja nach wie vor auf dem Papier, wohl aber die Arbeitstechnik. Ich habe einige Vorurteile gegen Computer abbauen müssen, was letzten Endes wahrscheinlich sogar einen veränderten Blick in die Welt ergibt, auch in die Offline-Welt.

Noch irgendwas zum Abschluß?

Man sollte in dem ganzen Unternehmen nicht mehr und nicht weniger sehen als es ist: nicht mehr – etwa den Versuch, lineares Erzählen (in Richtung fraktales Erzählen) zu überwinden, den Leser zum Autor zu machen, das Ende der Buchkultur einzuläuten usw.; nicht weniger – immerhin ist es, soweit ich weiß, die erste Langzeitdokumentation einer Romanentstehung im Netz, eine Art digitales Marbach-Archiv einschließlich aller Vorstufen und Nebenwege. – Und letztendlich, auch wenn’s trivial klingt: Hätte die Lust daran nicht immer wieder die Unlust überwogen, dann wären wir sicherlich nicht so lange dabei geblieben. Insofern Danke an alle, mit denen ich in den letzten zwei Jahren auch – ziemlich oft gelacht habe.