„Ein Greenhorn auf hoher See“

„Ein Greenhorn auf hoher See“Gespräch mit Dagmar Fretter

erschienen/erscheint bei:

Börsenblatt, Heft 21/24.5.07

Entstehungszeitraum: 11/05/2007

Interview (Kompletter Text)

Herr Politycki, in Ihren Büchern erzählen Sie oft von skurrilen Menschen. Warum haben Sie noch nie eine so skurrile Figur erfunden, die auf einem Luxuskreuzfahrtschiff in einer Balkonkabine um die Welt fährt?

Dazu hätte ich ja schon mal an einer Kreuzfahrt teilgenommen haben müssen – ohne konkrete Erfahrung nützt auch die lebhafteste Phantasie nichts.

Wenn Sie Ihren Band „Das Schweigen am andern Ende des Rüssels“ um ein Kreuzfahrt-Kapitel erweitern müssten, wer wäre die Hauptfigur?

Keine Frage: Ebenjener Johann Gottlieb Fichtl, der sich nun auf der EUROPA eingeschifft hat. Ein kleiner oberbayerischer Finanzbeamter mit bedenklichem Hang zur Motivkrawatte, der die Reise mit seiner Wettgemeinschaft gewonnen hat. Daß er das Leben an Bord auf recht eigenwillige Weise bereichert, versteht sich von selbst.

Was ist eigentlich ein Schiffsschreiber?

Eine Erfindung von Hapag-Lloyd, analog zum Stadtschreiber. Er ist eingeladen, sechs Monate lang an Bord zu leben; schreiben muß er dabei nicht unbedingt.

Wie sind Sie zum Schiffsschreiber geworden?

Durch einen überraschend kurzen Anruf. Und viele lange Gespräche in Folge.

Wenn jetzt die Stelle zum Schiffsschreiber auf der HANSEATIC ausgeschrieben wäre, würden Sie sich bewerben?

Leider kann man sich für den Posten des Schiffsschreibers nicht bewerben, weder auf dem einen noch auf dem andern Schiff – man wird es oder wird es eben nicht.

Was erwartet Hapag Lloyd-Kreuzfahrten von Ihnen – außer der Publicity durch Interviews wie dieses?

Eine Lesung pro Reiseabschnitt. Macht von 5.11.06 bis 7.5.07 insgesamt 13 Lesungen. Ich denke, das ist zu schaffen.

Haben Schiffsschreiber Fans? Wissen Sie von Passagieren, die unbedingt eine Kabine in Ihrer Nähe haben wollten?

Ich bin schon glücklich, wenn sie unbedingt ein Buch von mir haben wollen.

Wie war ihr erster Künstlerabend an Bord?

Das war die Welcome-Show, an der sich sämtliche Künstler einer Reiseetappe mit einer Kostprobe ihres Könnens präsentieren. Ein Schriftsteller fällt auf einem Kreuzfahrtschiff unter „Sonstiges“, seine Mitwirkung an einer Welcome-Show besteht darin, sich bei der Erwähnung durch den Kapitän vom Platz zu erheben.

Was werden Sie beim nächsten Mal anders machen?

Beim nächsten Mal? Sie vermuten ernsthaft, man würde zwei Mal im Leben Schiffsschreiber? Und was glauben Sie, was meine Frau dann dazu sagen würde?

Viele VIPs fahren auf der Europa. Wem werden Sie noch begegnen?

Wissen Sie, die VIPs sind ja gut und schön. Mindestens so interessant sind die Menschen, die hinter den Kulissen wirken, auf daß die VIPs ihr tägliches Fünsterneplus-Gefühl haben.

Die eigentlichen Stars eines Schiffs sind die Passagiere. Welche Begegnung hat Sie am meisten beeindruckt?

Nein, der unumstrittene Star eines Kreuzfahrtschiffes ist der Kapitän. Am beeindruckendsten ist er, wenn er auf der Brücke steht und durch seine pure – schweigende – Anwesenheit dafür sorgt, daß wir auf Kurs bleiben.

Die meisten Kreuzfahrt-Romane sind Liebesromane oder Krimis. Für welches Genre würden Sie sich entscheiden?

Da wissen Sie mehr als ich, ich kenne keinen einzigen Kreuzfahrtroman. Könnte daran liegen, daß es bislang keine Schiffsschreiber gab. Jedenfalls habe ich mich für die Gattung des Schelmenromans entschieden, Untergattung Hochstaplerroman. Ein kleiner Finanzbeamter hätte auf diesem Schiff ja anders gar keine Chance.

In einem Interview sagten Sie, dass für Sie immer Seetag sein könne. Im Online-Tagebuch beschreiben Sie dann aber „blassgrüne Gesichter“ bei „deutlich bewegter See“. Sinneswandel im Laufe einer Seereise oder temporäre Erscheinung?

Weder noch, die blaßgrünen Gesichter hatten, zum Glück, ja bislang immer die anderen. Mittlerweile haben wir auch die Atlantikdünung hinter uns, davon wird man regelrecht in Schlaf geschaukelt.

Zum Stress einer Seereise gehören 105 Landgänge in 180 Tagen Seereise. Nennen Sie uns Ihre Top 5.

Benghazi (Libyen: römische Ruinenstadt), Tripolis (Libyen: Flug in die Oasenstadt Ghadames), Sao Miguel (Azoren: brodelnde Quellen), Horta/Faial (Azoren: Kaimauerbemalung), und Top of the Pops ganz ohne Landgang: die nächtliche Passage durchs lichterfunkelnde Istanbul.

Was war Ihre größte Enttäuschung auf der Reise?

Daß der Golfsimulator sogar Spaß macht. Ich hatte fest mit dem Gegenteil gerechnet.

Was die größte angenehme Überraschung?

Selbst bei Anlandungen bemüht man sich, so sanft am Kai anzulegen, daß keiner der Passagiere dadurch gestört wird.

Jeden Tag wird das Bett gemacht, jeden Tag essen Sie „haute cuisine“, jeden Tag können Sie mit einem Champagner-Cocktail beschließen. Was fehlt Ihnen am meisten?

Sie vermuten, ein simples Frankfurter Würstchen mit Kartoffelsalat, ein Schnitzel oder gar ein Strammer Max? Da muß ich Sie enttäuschen, das gibt es hier alles auch, sogar rund um die Uhr.

Laut Preisliste kostet eine Weltreise mit der MS Europa in einer Balkonsuite zur Alleinbenutzung 112250 Euro. Es gibt keinen Zweifel daran, dass diese Schiffsreise jeden Cent davon wert ist. Was würden Sie tun, wenn Sie für Ihre nächste Reise ebenso viel Geld ausgeben könnten?

Ich habe lange nachgedacht, ob ich so viel Geld bei einer der Reisen, wie ich sie bislang bevorzugt habe, überhaupt je ausgeben könnte – und keine Möglichkeit gefunden. Wenn man am Fenster eines indischen Überlandbusses sitzt, zieht die Welt nicht minder faszinierend an einem vorüber wie auf dem Balkon eines Luxuskreuzfahrtschiffes.