„Ich kenne erschreckend viele Leute, die aus Deutschland wegwollen“

„Ich kenne erschreckend viele Leute, die aus Deutschland wegwollen“Interview: Anna Schneider

erschienen/erscheint bei:

DIE WELT, 21/9/22; zum Interview (Welt+)

Entstehungszeitraum: 05/09/2022 - 13/09/2022

Interview

Da wir in einem Wiener Kaffeehaus sitzen, vermute ich, daß sich das mit Ihnen und Deutschland noch immer nicht ganz ausgeht.

Geht sich aus, geht sich nicht aus, das war meine Einstiegsdroge ins Wienerische. Man kann damit fast jede zweite Frage beantworten und vermeidet jede Brüskierung – auf Hochdeutsch würde man’s nie so beiläufig hinkriegen.

Und, geht es sich denn nun aus, in Bezug auf Deutschland?

Durch die Distanz geht sich’s wieder besser aus. In dem Moment, in dem ich bei einer Reise eine Grenze überschreite, werde ich ein andrer. Und ein Umzug ist ja viel mehr als eine Reise – jeder Gedanke muß fortan von einem neuen Ausgangspunkt gedacht werden. Das verändert die Perspektive gewaltig.

Weshalb?

Weil ich erst jetzt ganz konkret sehen kann, wie unterschiedlich die beiden Länder Probleme angehen. Was in Österreich altmodischer wirkt, scheint mir in Wirklichkeit noch intakter zu sein als in Deutschland; zumindest kann man sich die Probleme nicht so leicht gemeinsam schönreden. Paradoxerweise hat mich mein Abschied von Deutschland aber auch wieder in die deutschen Debatten zurückgebracht, die ich fliehen wollte. Eigentlich wollte ich nur die Freude am Schreiben wiedergewinnen, aber die Resonanz auf meinen Abschied hat mir klargemacht, daß ich mich nicht auf mein Kerngeschäft zurückziehen kann. Im Grunde bin ich halt so erzogen, meine Eltern haben mir eingeschärft, daß man die Politik nie wieder nur den Politikern überlassen darf.

Sie meinten eben, Deutsche und Österreicher gingen unterschiedlich an Probleme heran. Inwiefern?

Eine große Fähigkeit der Wiener ist Satzbauverschachtelung, jedenfalls wenn sie im Kaffeehausmodus argumentieren. Es ist manchmal nicht ganz zielführend – und das meine ich positiv. Wer komplexer formuliert, hat auch komplexer gedacht. […]