Kuba, Karten und Klischees

Kuba, Karten und KlischeesGespräch mit Jens Nommel

erschienen/erscheint bei:

http://handlungsreisedialog.blogwerft.de

Entstehungszeitraum: 07/02/2008

Interview (Kompletter Text)

Matthias Politycki, wie kam es zu der Idee, als Schiffsschreiber auf der Europa anzuheuern?

Anheuern? Nein, die Idee kam von Hapag-Lloyd, und mehr als eine bloße Idee war es am Anfang auch nicht. Die EUROPA versteht sich ja als „klassisches“ Kreuzfahrtschiff mit einem umfangreichen kulturellen Rahmenprogramm; dabei spielen literarische Lesungen zumindest eine Nebenrolle. Nun kam man auf die Idee, nach dem Modell einer Stadtschreiberschaft auch mal einen „richtigen“ Schriftsteller an Bord zu holen. Im Klartext: Man hat mich eingeladen, die Weltreise mitzumachen, als ganz normaler Passagier am Bordleben teilzunehmen und ansonsten nach meinen Vorstellungen dort zu leben und zu arbeiten. Die einzige Verpflichtung: während jeder der 13 Teilstrecken eine Lesung zu geben. Für die Reederei war das natürlich ein gewisses Risiko. Die wussten ja nicht, ob ich ihr Flaggschiff nun walraffmäßig von ganz unten recherchiere und in die Pfanne schreibe. Aber diese Art von investigativem Journalismus interessiert mich ja gar nicht.

Hielten Sie auch so etwas wie eine literarische „Sprechstunde“ für die Gäste ab?

Das brauchte es gar nicht. Ich wurde ja zu Beginn jeder Etappe im Rahmen der „Welcome-Gala“ vom Kapitän vorgestellt, war an Bord also eine öffentliche Person. Noch dazu eine, die nahezu permanent ansprechbar war, auf einem Schiff kann man sich ja nicht wirklich entziehen. Andrerseits haben mich die Anekdoten von Menschen, die viele hundert, ja tausend Tage auf diesem Schiff verbracht haben, auch interessiert; Seemannsgarn, diese fabelhafte Mischung aus Fakten und Fiktionen, fand ich literarisch weit spannender als Tatsachenrecherche – und davon gibt es auch unter Passagieren reichlich. Einer hat mir sogar mal auf der Joggingstrecke den Weg verstellt, weil der Mitteilungsdrang zu groß war; ein anderer ist direkt vor mir in den Swimmingpool gesprungen, als ich dort meine Bahnen zog.

Ihr Antrieb, diese Fahrt mitzumachen, war es also, Material für ein neues Buch zu sammeln?

Ja, ich hatte eine Idee, „In 180 Tagen um die Welt“, sonst hätte ich das gar nicht gemacht. Daher war meine Weltreise sogar etwas länger als die offizielle, die dauerte nur 157 Tage – eine „Primärvision“ kann man eben nicht beliebig verkürzen. Natürlich hat sich die Reederei zunächst gewundert, daß mir nicht mal die Einladung zur Weltreise genügte. Aber entweder man setzt seine Primärvision um oder man läßt es ganz.

Während Ihrer Zeit an Bord haben Sie – aus der Warte Ihrer Hauptfigur – ein Online-Tagebuch geschrieben. Wird aus diesen Einträgen das Buch entstehen?

Auf meiner Homepage (und das war ganz schön anstrengend!) habe ich jeden Morgen einen neuen Text eingestellt, dazu ein Photo dessen, was am Morgen tatsächlich zu sehen war. Schon hier vermischt sich die tatsächliche Faktizität dieser Reise – die konkrete Anschauung einer ganz realen Destination – mit dem Anekdotischen, vermischen sich Wirklichkeit und Phantasie. Darin liegt ja womöglich auch der Reiz für den Leser: Die Beschreibung des Schiffes, der Route, der „offiziellen“ Ereignisse (Äquatortaufe, Kapitänswechsel etc.) stimmt, unter den Figuren des Textes gibt es nicht wenige, deren reale Vorbilder man tatsächlich wiedererkennt – sofern die realen Personen nämlich Vergnügen daran hatten, sich selber zu fiktionalisieren; die restlichen Figuren sind … völlig frei erfunden? Zum Teil; es haben sich ja auch nicht wenige meiner Freunde mit ihren tatsächlichen Namen an Bord eingefunden. Verwirrend? Ebenjenes Melange aus realem Kern und dazufabuliertem „Mehrwert“ an Phantasie macht aber erst so richtig kreativ, ergibt als Ganzes ein literarisches Kaleidoskop, das mit jedem Kalenderblatt die Gegebenheiten an Bord neu zusammenruckelt und dabei die Geschichte ein Stückchen weiterdreht. Aus dem überarbeiteten Material wird das Buch werden: eine Art Schelmenroman, aus Seemannsgarn gesponnen – für mich eine völlig neue literarische Form.

Haben Sie diese Texte während Ihrer Lesungen an Bord vorgelesen?

Erst ab einem gewissen Punkt, und zwar, weil es natürlich auch darüber viele Gerüchte gab, ja Verdächtigungen, Unterstellungen, das Gespräch an Bord besteht ja zur Hälfte in der Verbreitung von Unwissen. Meine Abschiedslesung habe ich dann gemeinsam mit dem Kapitän bestritten; eine spezielle Lesung für die Crew gab es natürlich auch.

Wie viele Stationen ist das Schiff angelaufen?

Das habe ich tatsächlich ausgezählt, weil eine meiner Figuren an derlei Statistik sein Vernügen hat. Von ihr weiß ich: Wir haben 46 Länder angelaufen, hatten 119 Tage mit Landgang.

Haben Sie diese Ausflüge alle mitgemacht?

Man muss bei einer solchen Reise auch eine Art touristischer Hygiene betreiben. Am Anfang habe ich versucht, jedes Land maximal wahr- und aufzunehmen. Doch bei einer Weltreise sieht man nie genug, es geht immer viel zu schnell weiter, besser, man spart sich den einen oder anderen Hafen von vornherhein. Man könnte ohnehin nicht 180 Tage lang voll Leidenschaft in die Welt gucken; man hat ja nur ein begrenztes Reservoir an Aufnahmebereitschaft.

Wie sieht ein normaler Tag an Bord aus?

Oh, da wird man ganz schön auf Trab gehalten – zu den Landausflügen kommt das „ganz normale“ Gesellschaftsleben rund um die vielen Mahlzeiten und Empfänge, dazu ein aufwendiges Unterhaltungs- oder eigentlich Wellnessprogramm – Malkurs, Fitnesskurs, Massagen, Konzerte, Vorträge, Tanz, Galabende – man könnte sich ununterbrochen beschäftigt halten. Und muss lernen, Abstriche zu machen. Umso mehr, wenn man „nebenbei“ auch noch arbeiten möchte, und sei es, die ganzen Anekdoten, Gerüchte, Beschwerden, die einem erzählt werden, überhaupt erst mal alle aufzunotieren.

Dann hatten Sie ja richtig Stress auf Ihrem Luxusdampfer?

Es klingt paradox: In diesem Luxus an Angeboten muß man sich streng organisieren, ja disziplinieren – um Zeit zum Arbeiten zu bekommen, habe ich ab einem gewissen Zeitpunkt das kulturelle Angebot kaum noch wahrgenommen, auch täglich mindestens eine Mahlzeit ausgelassen. Es passiert trotzdem immer viel zu viel, das Schiff fährt ja ständig weiter,: Man lebt permanent in diversen Parallelwelten, man könnte verrückt werden vor lauter Überangebot an Außenreizen.

Normalerweise herrscht eine strikte Trennung an Bord zwischen Mannschaft und Gästen. Und Sie konnten sich in beiden Welten bewegen?

Das war mein ausdrücklicher Wunsch an die Reederei, sonst hätte ich es gar nicht gemacht. Was an Bord zunächst zu großen Problemen führte, denn die Trennungslinie zwischen Mannschaft und Passagieren ist auf der EUROPA sehr klar gezogen. Doch ich wollte nun mal vor allem wissen, wie es hinter den Kulissen zugeht. Eine harte Zeit für beide Seiten, zwischenzeitlich ernste Verwerfungen, am Ende war ich dann fast nur noch mit der Mannschaft zusammen. Das anfängliche Mißtrauen seitens der Offiziere ist ja auch verständlich: Was wird dieser Schriftsteller denn am Ende über uns schreiben? Daß es hoffentlich nichts als Literatur werden wird, glaubt einem dort zunächst niemand. Es hilft nichts, man muß sich aneinander gewöhnen, muß erklären, sich schrittweise füreinander öffnen – und plötzlich öffnet einem der F&B-Manager (das ist der Mann unter dem Hoteldirektor, der für Essen und Trinken zuständig ist) den Kaviarkühlschrank: Guck mal, dafür könntest Du Dir ein Einfamilienhaus kaufen. Und schon steckt man in der nächsten Anekdote, diesmal allerdings Seite an Seite mit einem fachkundigen Co-Autor – und in diesem Moment wird die Fundgrube an Ideen wirklich unerschöpflich.

Sie haben also die Mannschaft an Bord zum Dichten angeregt, vielleicht wird das Bordtagebuch auch ohne Sie weitergeführt?

Der „Chief“, der F&B-Manager und viele andre auch, vom Kapitän über den Bordpastor bis zum Klavierstimmer, haben bislang jedenfalls kräftig „mitgeschrieben“. Übrigens war es schon bei meinem letzten Roman so, ein Leben ohne Freunde wäre ein Irrtum, und oft sind es diese Freunde, die auch beim Schreiben die entscheidenden Anregungen geben.

Sie sind immer schon viel gereist und haben aus den Reisen Ihren Stoff bezogen. Macht es einen Unterschied beim Schreiben, sich in solch luxuriöser Umgebung zu bewegen?

Was Seereisen betrifft, war ich ein Greenhorn; die Welt auf einem Schiff war mir fremder als ein Großteil der Destinationen: Wer sich im Chaos einer indischen Großstadt zurechtfindet, hat im streng choreographierten Ritual eines Kapitänscocktails noch lange keinen Überblick. Es wäre leicht gewesen, sich auf seine Vorurteile zurückzuziehen; tatsächlich wollte ich aber auch dieses Schiff wie ein fremdes Land erleben, mit staunenden Augen und offenem Gemüt. Natürlich muss man sich den Gegebenheiten ein wenig anpassen, aber das muß man in Indien, weiß Gott, auch. Anstrengend in beiden Fällen. Aber da beginnt die eigentliche Reise. Im Fall der EUROPA: eine Reise nach Deutschland. Der Altersdurchschnitt war dabei übrigens kein Problem. Ich habe quietschlebendige alte Herrschaften kennen gelernt, die meine Vorstellung von „Alt werden, ohne jung zu bleiben“ aufs Erfrischendste verkörpern.

Also Sie haben dort auch Charakterstudien betrieben und eine Menge Stoff für weitere Bücher gefunden?

Da es sich bei einem Passagierschiff um eine Versuchsanordnung auf allzu kleinem Raum handelt, kommt das Allzumenschliche dort noch viel stärker zum Vorschein als im normalen Alltag an Land, in komprimierter Form: die Macht der Stillen Post im allgemeinen, der Intrigen und Gerüchte im speziellen; aber auch die Strahlkraft eines geraden Rückgrats. Das Schiff ist dabei immer nur das Schiff, es sind wir selber, die sich darauf viel stärker exponieren und entlarven als an Land.

Während der Reise wurde auch ein Hörbuch produziert, das im September erscheinen wird. Wie dürfen wir uns das vorstellen?

Den erzählerischen Faden liefern vierzig meiner fiktiven Logbuchtexte, darüberhinaus ist das Schiff jedoch von Wolfgang Stockmann in all seinen tatsächlichen, jedenfalls akustisch erfaßbaren Dimensionen „vermessen“ worden: das Rasseln der Ankerketten, das Brummen der Maschinen, das Klirren der Galadiners usw., all das ergibt den Klangteppich. Und dazu kommen Interviews mit zig Personen, vom Sicherheitsoffizier über den Barkeeper bis zum Zimmermädchen, zusammengeschnitten zu einem Hörspiel über den Alltag an Bord.

Und wann verreisen Sie das nächste Mal?

Man sollte an jedem Ort dieser Welt den wachen Blick behalten, auch vor der eignen Haustür. Und dorthin bin ich gerade ein halbes Jahr lang gereist – faszinierend, was ich dort jetzt alles entdecke! Manchmal muss man eben erst weit wegfahren, um den Schritt zum Nächstliegenden zu machen. Und im übrigen: Die Reise auf dem Schiff, die ist ja noch längst nicht abgeschlossen. Oder glauben Sie, daß ich das Rauschen des Meeres jemals wieder aus meinem Ohr herausbekommen werde?