„Literatur muß relevant sein“

„Literatur muß relevant sein“Fragen: Stefanie Grote

erschienen/erscheint bei:

Kultur Korea, Hg. Koreanisches Kulturzentrum / Kulturabteilung der Botschaft der Republik Korea, Ausgabe 2/2013.

Entstehungszeitraum: 09/02/2013

Interview (Kompletter Text)

Der Schriftsteller Matthias Politycki war 2011 Kurator des Münchner Literaturfests. Im Interview spricht er über seine Erinnerungen an Korea, wo er in den Jahren 1999 und 2001 mehrere Wochen verbrachte. Über diese Zeit sind einige Gedichte entstanden.

Was hat Sie in Korea beeindruckt? Ihr Aufenthalt liegt ja schon etwas zurück, aber gibt es etwas, das Ihnen in der Erinnerung geblieben ist?

Das Wichtigste, das – übrigens bis heute – geblieben ist, ist ein Freund. Freundschaft ist selbstverständlich auch für unser „normales“ Leben in der Heimat zentral wichtig; aber einen Freund im Ausland zu gewinnen, ist immer wieder etwas Besonderes. Und dann gar in einem Land wie Korea, das uns zunächst einmal so fern liegt! Wenn es gelingt, über alle kulturellen und räumlichen Grenzen hinweg eine Freundschaft zu führen, verliert sogar das Gespenst der Globalisierung seinen Schrecken. Hinter diesem allerwichtigsten Aspekt meiner Korea-Reisen kommen dann aber auch gleich all die faszinierenden, teils frappierenden Erlebnisse, die ein fremder Kulturraum für uns bereithält. Meinen größten Schock erlitt ich in Korea an einem ganz normalen Imbißstand: Die Seidenraupen, die wir dort gekauft hatten, brachte ich einfach nicht runter. Diese kleine Niederlage, dies tiefe Erschauern hat mich tagelang nicht mehr losgelassen – ich mußte mich durch ein Gedicht davon befreien. Und so ist es bei mir immer, in welchem Land der Welt ich mich auch befinden mag: Man ist aufmerksamer in der Fremde, verletzlicher, leichter zu begeistern, zu erschüttern, zu faszinieren; überdies spürt man hier, naturgemäß eben auch nur hier, die Sehnsucht nach der Geborgenheit der heimatlichen Straße und ihrer wohlvertrauten Eckkneipe. All das ergibt eine Gemütslage, aus der heraus – jedenfalls bei mir – nicht selten auch etwas Literarisches entstehen will.

RATSCHLAG ZUM VERZEHR DER SEIDENRAUPE
Gegeben am Straßenrand zu Pusan von einem Schweizer Mundprobendichter

Schau bloß nicht zu lang in den Topf, wo
sie – dunkelbraun brodelnder Sud –
zu Hunderten köcheln.
Schau bloß nicht zu lang in den Becher,
den dir die Verkäuferin füllt: Ist
doch schließlich egal, ob es zwanzig,
ob dreißig von ihnen sind, die deiner
harren.

Fürchte dich nicht, sie sind so lang gekocht, daß
sie wirklich fest schlafen.
Nimm einen Zahnstocher, wie du sie oft schon
in Würfel aus Käse gestoßen, und – tu’s.
am besten, du zielst in den Rücken der Raupe,
dann mußt du nicht zusehen, wie sie womöglich,
zum letzten Sekundenschmerz kaum sich verkrümmend,
erwacht.

Und, hörst du, vermeide zunächst mal
die hellen, die sind nicht ganz durch,
die spritzen, sobald sie dir zwischen
die Zähne geraten.
Nimm eine der dunklen gesottnen, die liegen,
das wirst du gleich glauben,
die liegen ganz leicht auf
der Zunge.

(aus: M. P.: Ratschlag zum Verzehr der Seidenraupe. 66 Gedichte, Hoffmann und Campe 2003, S. 14)

Also hat keiner von Ihnen die Seidenraupen probiert?

Doch, doch, ein Schweizer Kollege, deshalb habe ich ihm meinen „Ratschlag“ ja via Untertitel auch „in den Mund gelegt“. Er hat seinerseits dann ein Gegengedicht mit gleichem Titel geschrieben, im Untertitel als „Authentische Fassung“ gekennzeichnet – schließlich hat er als einziger die Seidenraupen ja auch tatsächlich gegessen. Er heißt Rudolf Bussmann und ist für mich seitdem ein Held.

Gibt es koreanische Literatur, die Sie in einer Weise berührt hat?

Da kann ich einige Gedichte von Kim Kwang-kyu nennen, vor allem „Eine Zugfahrt nach Seoul“. Doch wenn ich ehrlich bin, ist mir der Austausch der Kulturen auf dieser Ebene gar nicht so wichtig: Ich verstehe mich zwar explizit als reisender Schriftsteller, aber gerade deshalb, weil ich nicht vornehmlich als Schriftsteller reise, etwa um in fernen Ländern inspiriert zu werden. Was Korea betrifft, so habe ich mich darauf nicht so sehr durch Lektüre koreanischer Literatur vorbereitet; mich interessiert die unmittelbare Begegnung mit den Menschen des Landes. Durchaus auch mit dessen Dichtern. Noch heute erinnere ich mich daran, daß sie, im Gegensatz etwa zu Japanern (die anscheinend schon vom Anblick eines gefüllten Bierglases betrunken werden), erstaunlich trinkfest waren. Erinnere mich sogar an eine ihrer Spezialitäten namens „A-Bombe“ – ein Halbliterglas Bier, in dem ein Glas voll Schnaps versenkt war. Um da mithalten zu können, mußten wir an unsere Grenzen gehen. Auch über diese Art von Eindrücken habe ich dann geschrieben, eine reichlich absurde Geschichte*. Denn natürlich wurden die Gelage mit den koreanischen Dichtern schon in der Realität absurd komisch, allein schon die Stefreifgedichte, die da zwischen den Trinkritualen zum Besten gegeben wurden. Diese Geschichte wurde übrigens ins Koreanische übersetzt und auch publiziert; als ich sie bei meinem zweiten Besuch in Korea las, im damals gerade eröffneten Literaturhaus von Seoul, prusteten die Leute vor Lachen. Anscheinend sind wir uns doch nicht so fern, wie wir immer vermuten, zumindest nicht in unserem Humor.

Warum schreiben Sie über Ihre Reiseaufenthalte?

Weil ich muss; keine Zeile davon schreibe ich freiwillig. Ich bin froh über jede Reise, bei der ich nichts zu schreiben habe, das waren nicht selten die erholsamsten Aufenthalte. Aber es ist eben oft so, dass man in der Fremde, sofern die Koordinaten der Wirklichkeitswahrnehmung auch nur leicht verschoben sind, zwangsläufig produktiv wird, um das alles zu „bewältigen“ – und die Fremde beginnt ja, wenn man bespielsweise in Schwabing wohnt, bereits in Haidhausen.** Von dieser Zwangsproduktivität leben wir Schriftsteller, auch wenn wir darunter leiden: Wir können unsre Stoffe nicht willentlich wählen, die Stoffe wählen uns. Und lassen uns erst wieder los, wenn wir ihnen eine Form gegeben haben.

SOGAR AN DEN KÜSTEN KOREAS

Sogar an den Küsten Koreas gelingt die
Betrachtung der Fettheit des Vollmonds nurmehr in
Gesellschaft von Reiswein: wie rauscht da das Meer, rauscht

das Schilf, und wie ragt da als Schatten die Kiefer,
wie hängt da die Nacht voller Schildkrötenschiffe,
verzauberter Bären und Drachenwunschperlen

Ist freilich dann die allerletzte Flasche leer,
rauscht bloß noch, hochhaussilhouettenhaft beragt,
rundum das Neonmeer, hängt nur taghell der Himmel,
bis tief hinab auf seine Mittelstreifen flackernd,
voll unentzifferbarer Sinnverheißungen

Und vor den immergleichen Fischlokalen warten
die immergleichen Glasbehälter, bis zum Rand
gefüllt mir Krebsen, Muscheln und mit Fischen die –
weit aufgerissnen Maules aus dem Wasser springend –
auf unermüdlich gleiche Art ihr Unglück suchen

(aus: M.P.: Ratschlag zum Verzehr der Seidenraupe. 66 Gedichte, Hoffmann und Campe 2003, S. 16)

Englisches Ale oder koreanischer Reiswein?

Reiswein. Davon habe ich mir sogar ein Fläschchen nach Deutschland mitgenommen.

Na dafür wird man sie in Korea lieben! Vielen Dank für das Gespräch!

* in: M.P.: Das Schweigen am andern Ende des Rüssels, Hoffmann und Campe 2001.
** Zwei Stadtteile in München.