„Man beginnt, sich selbst zu zensurieren“

„Man beginnt, sich selbst zu zensurieren“interview: Lina Paulitsch und Klaus Nüchtern

erschienen/erscheint bei:

Falter 28/22, 13/7/22; zum Falter
Entstehungszeitraum: 25/05/2022 - 07/07/2022

Interview

Waren die Reaktionen auf Ihre „Emigration“ eher positiv oder negativ?

Ausschließlich positiv. Ich habe hunderte von Zuschriften, auch von bekannten Schriftstellern und Philosophen, bekommen, die mir versichert haben: „Mir geht’s genauso, Gottseidank hat’s jetzt mal einer ausgesprochen.“

Es gab keinen Applaus von der falschen – also der rechten – Seite?

Politycki: Nein, es wurde so verstanden, wie ich’s gemeint hatte. Nämlich als Kritik an der Linken – an den Auswüchsen der Wokeness – aus der linken Ecke, man kennt mich in Deutschland ja als einen klassischen Linken.

Sie beklagen, dass man die Freiheit beim Schreiben nicht mehr habe, Ihnen selbst redet aber niemand drein. Ihr Lektor drängte sie sogar dazu, das „N-Wort” zu verwenden, wie Sie in Ihrem Buch erzählen.

Ja, weil der Roman sonst nicht funktioniert hätte. Das von einem ausgesprochen woken Lektor zu hören, hat mich schon überrascht. Auf Amazon bekommt man dafür dann eine Ein-Stern-Kritik, in der man als „übler Rassist“ identifiziert wird. Solche Leser sind vor lauter Weltverbesserungsfuror nicht mehr in der Lage, zwischen den Aussagen eines Autors und denjenigen seiner Figuren zu unterscheiden.

Oft wird nicht wirklich was „gecancelt“ oder die Redefreiheit eingeschränkt, sondern es fegt ein heftiger Shitstorm durchs Netz. Gibt es die Cancel Culture tatsächlich?

Oja, und hinter den Kulissen fängt sie sogar erst so richtig an! Da wird entschlossen weggelassen oder verhindert, perfiderweise oft auf eine verständnisvolle Weise. Aus meinem Bekanntenkreis weiß ich, dass einem etwa auf sehr freundliche Art nahegelegt wird, diesen oder jenen Romanstoff doch jetzt besser einmal nicht anzupacken.

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