„Man wollte einander nicht vernichten“

„Man wollte einander nicht vernichten“Interview: Alexander Diehl

erschienen/erscheint bei:

taz nord/taz, 9/3/22; zum Interview in der taz

Entstehungszeitraum: 02/03/2022 - 06/03/2022

Interview

Herr Politycki, wenn Sie, und sei es in der Nacht, an Deutschland denken – was macht das mit Ihnen?

Es hat mich tatsächlich lange schlaflos gemacht, und nicht nur mich. Als ich anfing, mich mit anderen darüber zu verständigen, war ich überrascht, wie vielen es ähnlich ging, gerade auch Leuten aus meiner klassisch-linken Ecke. Die Freiheit der Debattenführung, die Unbeschwertheit des Sprachgebrauchs, das direkte Ansprechen auch kontroverser Themen, wie konnte all das, was wir so selbstverständlich über Jahrzehnte genossen haben, so schnell verschwinden? Es hatte ja nicht etwa irgendwer von oben eingeschränkt. Wir selbst waren es mit unseren zunehmend rigorosen Forderungen nach politischer Korrektheit in allen Lebensbereichen. Irgendwann war ein Punkt überschritten, der auch mir die Sprache verschlagen hat. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich merkte, daß ich nicht mehr unbeschwert und mit Freude in den Tag ging – nicht als Mitglied unsrer Gesellschaft, nicht einmal mehr als Schriftsteller am eignen Schreibtisch, schließlich war mir die Sprache selbst zum Problem geworden. Und erst da hatte ich den Mut, Konsequenzen zu ziehen.

Läßt sich das an etwas Konkretem festmachen? Oder ist da einfach ein Faß übergelaufen?

Wie gesagt, ich komme aus der Linken. Das heißt, ich bin umgeben von Leuten, die mich – sei’s auch nur zum Scherz – bei gewissen Themen fragen: Darfst du als Weißer dazu überhaupt noch Stellung nehmen, darfst Du noch darüber schreiben? Ich antworte jedes Mal: Selbstverständlich darf ich das, vielleicht ist genau das sogar meine Aufgabe – schließlich bin ich viel in Afrika und Asien unterwegs gewesen, habe mich immer als Vermittler zwischen den Kulturen verstanden. Was heute der „kulturellen Aneignung“ verdächtig gemacht wird, hieß gestern noch Weltoffenheit und Kosmopolitismus. Wie reaktionär unsere aktuellen weltanschaulichen Positionen erscheinen, wenn man sie aus der Perspektive des Reisenden betrachtet! Und wie moralinsauer unser aktueller Sprachgebrauch bis hin zur permanenten Sexualisierung von Menschen und Menschinnen! Wenn davon nur da und dort in den Medien zu hören wäre oder an den Universitäten, könnte ich ausweichen. Aber im Alltag meines Hamburger Kiezes kann ich die Ohren nicht verschließen. Das ist die Sprache, aus der ich tagtäglich kreative Impulse empfange, es gibt keine Literatursprache, die unabhängig davon existiert. Irgendwann hatte ich keine Lust mehr zu schreiben; das war der Punkt, an dem ich mir eingestehen mußte, daß ich ein anderes Umfeld brauchte, freilich eines, in dem weiterhin Deutsch gesprochen wird.

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