„Marathon ist etwas Ernstes“
„Marathon ist etwas Ernstes“Interview: Christian Bärmann
Sportsfreund, Juli/August 2015.
Welches Buch liegt gerade auf Ihrem Nachttisch?
Der Roman «Am offenen Meer» von August Strindberg – Relevanter Realismus vom Feinsten. Mit unverwechselbar geprägten Charakteren und einem scharfen Blick für die gesellschaftlichen Umbrüche, die die schwedische Gesellschaft seinerzeit erlebte.
Wann wurde das Buch geschrieben?
Veröffentlicht wurde es 1890. Ich lese es in einer wunderschönen Ausgabe vom mareverlag, Leinen mit Lesebändchen. So was kriegt man nicht alle Tage in die Hand. Im übrigen ist der Text auch hervorragend übersetzt und kommentiert.
Sie lesen also nicht auf dem Kindle, Sie lesen Bücher?
Ich hab gar kein Kindle.
Mögen Sie Hörbücher?
Obwohl ich sie selber gern einlese, muss ich sagen: Gedruckt kommt mir Literatur näher.
Wie sind Sie auf den Strindberg als Lektüre gekommen?
Meinen Roman «In 180 Tagen um die Welt» hatte ich 2008 ausnahmsweise im mareverlag veröffentlicht, seitdem sind wir in Kontakt geblieben. «Am offenen Meer» hat mir der Verleger Nikolaus Gelpke aufs Geradewohl geschickt und damit voll ins Schwarze getroffen. Zuvor kannte ich Strindberg nur als Dramatiker, jetzt lerne ihn von einer ganz anderen Seite kennen.
Überzeugen Sie Plot und Sprache gleichermassen?
Der Plot ist ganz einfach. Aber wissen Sie, ich glaube, ein Leser merkt, ob sich ein Schriftsteller seinen Plot ausdenkt und dann am Schreibtisch zu Papier bringt oder ob er aus einer tatsächlichen Lebenserfahrung heraus schreibt. Und also auch Handlungsorte und Figuren über Jahre hinweg studiert hat. Ich bevorzuge als Leser diesen zweiten Typ. Als Schriftsteller bin ich freilich erst als knapp Vierzigjähriger vom abstrakten Schreiben zum realistischen Erzählen gelangt. Ein langer Weg hin zum Leser.
Dann ist zu vermuten, dass Sie auf Kuba waren, um «Herr der Hörner» schreiben zu können?
Zeitweise hatte ich dort eine Wohnung gemietet. Und für den nächsten Roman, «Samarkand Samarkand», war ich dann lange in Samarkand. In den Gebirgen rund um die Stadt habe ich die entscheidenden Passagen des Romans geschrieben.
Ist das der Idealfall: Dort zu schreiben, wo das Buch auch spielt?
Ja. Den Plot und die dazugehörigen Substantive kann man auch am Schreibtisch finden. Aber es sind die kleinen Wörter, die Adjektive und Adverbien, die dem Text Authentizität und Atmosphäre geben; um sie präzis zu setzen, muss man vor Ort (gewesen) sein. Der Schweiss nach einer anstrengenden Bergtour riecht anders als der Schweiss beim Marathontraining im flachen Hamburg. Man muß so viel wie möglich gerochen, geschmeckt, gehört haben, um ein Milieu unangestrengt glaubhaft beschreiben zu können.
Wann kam diese Erkenntnis?
20 Jahre lang hatte ich versucht, „Samarkand Samarkand“ am Schreibtisch zu schreiben, vergeblich. Erst als ich mich auf die Spuren meiner Hauptfigur und damit auch selber in die zentralasiatische Bergwelt begeben hatte, ging es. Sätze, die man in 5000m Höhe notiert, haben einen ganz anderen Druck, eine andere Notwendigkeit. Das war für mich der Durchbruch. Man muss auch als Schriftsteller ran an den Schmerz. Es reicht nicht, seine Figuren ins Verderben zu schicken, zumindest ein Stück Wegs muß man sie begleiten.
Können Sie ein Buch einfach geniessen, ohne auf das Handwerk zu achten?
Nein, ich kann ja nicht mal ohne Bleistift lesen. Aber den Strindberg genieße ich dabei sogar doppelt, eben weil er sein Handwerk so phantastisch beherrscht (lacht) und weil deshalb im Text alles so gut sitzt. Wie ein gut geschnittener Anzug. Man spürt es schon beim ersten Hineinschlüpfen: Das passt.
Schlechte Arbeit fällt auf?
Dann wird mir das Lesen regelrecht zur Qual. Eigentlich bin ich so erzogen worden, dass man Bücher ausliest. Aber das war als junger Mensch einfacher, da hat man im Rausch der Story über vieles hinweggelesen. Heute schaffe ich das nicht mehr.
Mit dem Alter ändert sich der Geschmack?
Oja, als Student stand ich auf experimentelle Prosa und las vieles, was ich heute nur noch als künstlich verklausuliert empfinden würde. Auch als Schreibender fühlte ich mich in der Avantgarde-Literatur zuhause. Aber ich habe mich davon immer weiter weg entwickelt, nicht zuletzt weil ich gemerkt habe, dass ich damit kaum Leser fand. Sprache vorwiegend als Musik zu betreiben, wie ich es tat, ist halt doch zu wenig.
Sie wollten gelesen werden. L’art pour l’art, das reichte Ihnen nicht?
Eigentlich von Anfang an nicht, ich hatte schon in meinem Erstling Geschichten erzählen wollen. Aber ich hatte sie unter der formalen Ebene allzugut versteckt. Es war schliesslich der Ortswechsel, der mir weitergeholfen hat: Wenn man im behüteten München aufgewachsen ist, ist Hamburg eine sehr realistische Stadt. Da fliegen einem viele Bleche gleichzeitig weg.
Wann wussten Sie, dass Sie Schriftsteller sein wollen?
Schon mit 16 oder so. Aber das war keine schöne Erkenntnis. Eigentlich wollte ich Schlagzeuger werden, das wäre eine aufregendere Karriere gewesen.
Mehr Mädchen?
Mehr Drive, mehr Sound, mehr Tempo. Wobei Nietzsche ja behauptet, keiner ergreife den Beruf, den er sich erträumt hat, bringe aber dessen Wesentliches in den Beruf ein, den er dann tatsächlich ergreift.
Gibt es Schubladenromane von Ihnen aus dieser Zeit?
Zunächst habe ich nur Gedichte und Erzählungen geschrieben. Aus den Geschichten wuchs im Lauf der Jahre mein erster Roman zusammen, «Aus Fälle/Zerlegung des Regenbogens».
Sind die Stoffe mit dem Älterwerden gekommen oder waren sie schon da?
Stoffe gesucht habe ich nie. Sie waren immer plötzlich da und immer im falschen Moment, weil ich ja gerade etwas ganz anderes schreiben wollte. Der stärkste Stoff setzt sich dann durch, man kann es leider nicht steuern. Alles andere wandert erst mal in den Fundus.
Wie entstand die Idee fürs neueste Buch?
Ich laufe ja schon lange, am liebsten zusammen mit anderen. Da wird in aller Offenheit und politischer Unkorrektheit miteinander geredet, eine Art Stammtisch ohne Tisch. Bei einem der langen Vorbereitungsläufe auf den nächsten Marathon kam Anfang 2013 die Idee auf, auch mal übers Laufen aus der Warte ganz normaler Freizeitläufer zu schreiben, über alles, was uns so bewegt und antreibt, quält und befeuert.
Wann fangen Sie an mit dem Manuskript, erst wenn Sie sich alles ganz genau ausgedacht haben?
Nein. Gerade bei „42,195“ musste ich die O-Töne sofort nach dem Lauf festhalten, die markigen Kommentare und Bekenntnisse, davon lebt ein solches Buch ja. Irgendwann später sollte alles überarbeitet und in die Gesamtstruktur eingepaßt werden, aber Sammeln wollte ich erst mal ohne Abstriche. Wenn es dann tatsächlich losgeht mit der Niederschrift, muß man die Strecke freilich komplett kennen, wie beim Startschuß zum Marathon, bis hin zum Schluß. Sie bauen ja auch nicht ein Haus, heben den Keller aus und wissen nicht, wo der Giebel sitzen soll.