Und übrig bleibt der dunkle kalte See

Und übrig bleibt der dunkle kalte SeeGespräch mit Martina Scherf über „Jenseitsnovelle“

erschienen/erscheint bei:

leicht gekürzt erschienen in: Münchner Kultur/Süddeutsche Zeitung, 10/11/09

Entstehungszeitraum: 09/11/2009

Interview (Kompletter Text)

Am Donnerstag, den 12. März, kommt Matthias Politycki nach Tailfingen ins Maschenmuseum. Er bringt, gewissermaßen druckfrisch, seinen neuen Gedichtband „Die Sekunden danach“ mit, der vor wenigen Tagen erschienen ist. Außerdem wird er aus seinem Roman „In 180 Tagen um die Welt“ lesen, der im Anschluss an seine Zeit als Schiffschreiber auf der MS Europa entstanden ist. Noch während der Reise hat er das Tagebuch des Johann Gottlieb Fichtl ins Netz gestellt, seinen Protagonisten quasi bloggen lassen.

Herr Politycki, darf ich – als bloggende Albschreiberin – Sie fragen, wie die einzelnen Tagebuch-Einträge unterwegs entstanden sind, ob Sie dabei bereits ein Konzept verfolgt haben und wann vor allem Sie zum Schreiben gekommen sind?

Oh, die Idee zum Roman hatte ich lange, bevor die Reise begann, insofern konnte ich alles Nötige vorbereiten, um am Tag der Einschiffung die Figuren, die grobe Handlung, mehrere rote Ersatzfäden gleich mit an Bord zu nehmen. Wo’s dann freilich, Tag für Tag, immer anders kam als erwartet, ich konnte den Logbucheintrag erst schreiben, wenn wirklich (fast) alle im Bett waren und nichts Wesentliches mehr passieren würde. Anstrengend! Denn ich mußte morgens ja auch immer einigermaßen früh raus, um das dazugehörige „Photo des Tages“ zu schießen und online zu stellen. Weil das so war, habe ich gewissermaßen ständig notiert, wo immer ich mich befand und mit wem und warum; Passagiere und Mannschaften waren eingeweiht, viele halfen mir mit ihrem Wissen, ihrem Witz und ihrer Phantasie. Sonst hätte ich es wahrscheinlich gar nicht geschafft. Um dann aus all dem trotzdem den Roman zu machen, den ich von Anfang an im Kopf hatte, dazu mußte ich die Reise allerdings erst beendet haben und noch mal ganz von vorn losschreiben.

Schon vor „In 180 Tagen um die Welt“ haben Sie 2005 mit Ihrem Roman „Herr der Hörner“ ein Buch veröffentlicht, das dem Trend zum Aussteigen weit voraus war. „Nie wieder Deutschland“ heißt es darin aus Sicht des nach Kuba ausgewanderten Protagonisten. So könnte eine der zahlreichen „Doku-Soaps“ heißen, aber auch ein politisches Manifest. In beiden Büchern wird das Deutsche aus der Ferne betrachtet deutlicher. Ist das Methode? Oder Zufall, weil Sie Schiffschreiber wurden?

In den beiden letzten Romanen geht es zunächst mal gar nicht ums Aussteigen, sondern ums „Einsteigen“, nämlich in eine dem Durchschnittsdeutschen fremde Lebensweise, sei’s in den harten kubanischen Alltag, sei’s in den nicht minder harten auf einem Luxuskreuzfahrtschiff. Natürlich steht dahinter in beiden Fällen ein gerüttelt Maß an Gesellschaftskritik, jedoch nicht als vorrangige Botschaft; ich war im Nachhinein selber überrascht, wie knapp ich mit jedem der beiden Bücher den Zeitläuften zuvorgekommen war.

Und werden Sie auch Ihr nächstes Buch im Anschluss an eine Reise schreiben?

Ja, dafür werde ich wieder reisen müssen, diesmal nach Zentralasien; aber zuvor kommt im Herbst noch eine „Jenseitsnovelle“, und die habe ich ausnahmsweise komplett am Schreibtisch geschrieben.

Für Ihre Romane recherchieren Sie, reisen, beschäftigen sich intensiv mit anderen Orten, Kulturen und Religionen. Sie gelten als beispielhaft, wenn es um genaue Vorbereitung, Einarbeitung in den Stoff, ein Sich-Aussetzen um des Einfühlens willen geht. Der Sean Penn der zeitgenössischen Literatur könnte man sagen…

Das wäre dann „Method writing“, nicht übel!

Ist das gefährlich? Haben Sie sich schon einmal wegen eines Buchs in eine Situation begeben, die Sie lieber nicht erlebt hätten.

Nicht eines Buches wegen, aber im Nachhinein habe ich dann manchmal darüber geschrieben. Das ist es ja gerade: Ich fahre nie los, weil ich irgendwo irgendetwas Aufregendes, Schrilles oder gar Auratisch-Inspirierendes erleben möchte, sondern, ganz simpel, weil mich das Land oder die Leute interessieren. Ich reise wirklich um des Reisens willen; Literatur ist dabei zwangsläufig zweitrangig, entsprechende Ideen kommen zufällig und sowieso immer im falschen Moment. Und wenn gar nichts aus einer Reise hervorgeht: umso besser, das spart viel Arbeit. Was nicht heißt, daß ich nicht an gewisse Orte zurückkehren muß, um die primären Inspirationen, die ich dort erhalten habe, im Fall des Falles zu überprüfen, zu ergänzen, durch ganz andere Eindrücke zu konterkarieren und meiner allerersten Idee dadurch erst auf die Sprünge zu helfen.

Und haben Sie schon mal über einen Ort geschrieben, an dem Sie noch nie waren?

Da fällt mir tatsächlich keiner ein. Aber ich hab mich halt doch schon einigermaßen rumgetrieben, alle Art von Fremde empfinde ich als extrem inspirierend, man erfährt sich gerade in Grenzsituationen immer wieder anders, als man es von sich erwartet hätte. Im Nachhinein eine gute Ausgangsbasis für Literatur.

Diese Namen bei Ihren letzten beiden Protagonisten… Der eine J.G. Fichte so ähnlich. Der andere so friesisch. Welche Bedeutung haben die beiden?

Broder Broschkus, die Hauptfigur aus „Herr der Hörner“, hat seinen Namen aus dem Hamburger Telephonbuch, eines Nachts lasen wir uns, ein Freund und ich, so lange aus Band A-K bzw. L-Z vor, bis wir die passende Kombination gefunden hatten. Daß „Broder“ friesischen (und auch, glaube ich, nordischen) Ursprungs ist, hat sich erst später herausgestellt, uns gefiel der Name einfach. – Was Johann Gottlieb Fichtl aus „In 180 Tagen um die Welt“ betrifft, so hat er jedenfalls nichts mit dem Philosophen Fichte zu tun (wobei ich derlei Spitzfindigkeiten von Kritikern bei der Wahl des Namens natürlich gern in Kauf genommen habe), sondern mit einem real existierenden „Fichtl“, dem Freund eines Freundes aus dem Allgäu. Sein Name gefiel mir schon lange; für meine Hauptfigur, einen kleinen Finanzbeamten aus der Provinz, schien er mir dann wie geschaffen. Übrigens hatte ich zu diesem Zeitpunkt längst beim echten Fichtl angefragt, ob ich den Namen benutzen durfte. Ich durfte.

Ihre Protagonisten sind meist deutsche Männer. Frauen bringen manchmal die Geschichte erst ins Rollen. (Wie die junge Tänzerin aus „Herr der Hörner“ oder die Frau auf dem japanischen Gobelin aus „Taifun über Kyoto“). Könnten Sie sich vorstellen, einen Roman aus der Sicht einer Frau zu schreiben?

Weder könnte noch wollte ich es, warum auch? Es gibt doch genug Autorinnen, die die Welt aus der Sicht deutscher Frauen beschreiben. – Wir haben halt jeder nur ein einziges Leben und eine Haut, in der wir stecken; ein bewußter Perspektivenwechsel mag für manchen Kritiker „interessant“ sein, authentisch wird eine solche aus dem Kopf heraus geschriebene Literatur selten. Außer man ließe sich die Erstniederschrift von einer Frau akribisch korrigieren; aber das dürfte dann so grundsätzlich ausfallen, daß sie fairerweise als Co-Autorin auf dem Umschlag stehen müßte.

Und haben Sie eine Lieblingsautorin?

So explizit nicht, aber ich würde das auch nicht in männliche und weibliche Lieblingsautoren aufteilen. Wenn ich es denn müßte: dann wäre derzeit vielleicht Mascha Kaléko auf Platz eins.

Ein Lieblingslied?

Eines? Wenn ich mit meiner Aufzählung begönne, hätten wir Ihren Albblog schnell überfüllt. Ein Leben ohne Musik wäre ja auch ein Irrtum.

Eine Veranstaltung bei den Literaturtagen heißt „Kicken und Lesen“. Lesen Sie kicker? Und haben Sie schon mal einen Text für Ihren Verein geschrieben?

Ich habe ein Gedicht mit dem Titel „Einmal Löwe, immer Löwe“ geschrieben (steht in „Ratschlag zum Verzehr der Seidenraupe“); im neuen Band fängt ein Gedicht mit den Versen „Es ist keine große Leistung, / für den FC Bayern zu sein“ an – das muß löwenmäßig reichen. Noch dazu, wo der Vereinsfußball längst nicht mehr diese identitätsstiftende Kraft hat wie, jawohl, wie damals. Und deshalb lese ich den „kicker“ auch nur noch, wenn er zufällig irgendwo herumliegt, aber selbst das eher interesselos. Eigentlich schade.

Apropos Gedichte: Am Donnerstag lesen Sie ja auch aus Ihrem neuen Gedichtband „Die Sekunden danach“. Was denken Sie über den Endreim?

Daß er, zusammen mit Binnen- und Stabreim, den verschiedenen Versmaßen und Rhythmen, Strophen- und Gattungsformen zum bewährten lyrischen Formenarsenal gehört, sozusagen zwecks Einkleidung des Netto-Inhalts (falls es den überhaupt gibt) –, und daß es dessen ungeachtet überraschend viel Lyriker gibt, die sich lieber nackt präsentieren.

Und zum Schluss: Was verbindet Sie mit der Schwäbischen Alb? Was verbinden Sie damit?

Nach dem 12.3. hoffentlich ein schönes Bierglas, das ich nach der Lesung irgendeinem Barkeeper abgequatscht habe.

Das sollte doch klappen. Bis Donnerstag also. Wir freuen uns hier schon sehr auf Ihr Kommen.