„Unsere eigene Gleichgültigkeit ist gefährlich“

„Unsere eigene Gleichgültigkeit ist gefährlich“Interview: Sabine Schmidt

erschienen/erscheint bei:

Rheinische Post, 26/4/14

Entstehungszeitraum: 14/04/2014

Interview (Kompletter Text)

Herr Politycki, Ihre literarischen Erzeugnisse sind unschwer erkennbar die eines Weltreisenden. Woher rührt Ihr Interesse an fremden Ländern? Was bedeutet Reisen für Sie?

Meine Eltern haben mich schon als Kind durch halb Europa mitgenommen, das Interesse an anderen Ländern gehörte wie das Zähneputzen ganz einfach dazu. Reisen schärft die Wahrnehmung ungemein, gerade wenn man in Länder reist, die nicht nach den vertrauten Standards funktionieren. Oft kommt man dort nur zurecht, wenn man neue und immer wieder neue Persönlichkeitsseiten entwickelt – meine Frau behauptet, daß ich im Ausland ein ganz anderer Mensch werde. Jedenfalls kehre ich stets ein wenig verändert nach Hause zurück. Und sehe dann auch das Altvertraute mit neuen Augen, bin wieder richtig neugierig darauf. – Was das Schreiben betrifft, so resultiert es ja nicht zuletzt aus depressiven Anflügen oder emotionalen Schocks; diese erlebt man im Ausland viel häufiger und massiver als z Hause, gerade in sogenannten Drittweltländern. Es ist schrecklich mitanzusehen, wie grausam das Leben dort bereits direkt am Wegesrand sein kann – als mitfühlender Mensch würde man es am liebsten schnell hinter sich lassen, als Schriftsteller muß man es jedoch aushalten, muß genau hinschauen, um später davon erzählen zu können.

Würden Sie sagen, daß Ihr literarisches Gesamtwerk vornehmlich durch Reiseerzählungen geprägt ist?

Im Januar dieses Jahres habe ich einen Roman abgeschlossen, an dem ich seit 25 Jahren schreibe: „Samarkand Samarkand“. Die Vision dieses Buches, wie ich sie damals in Usbekistan hatte, konnte ich anders einfach nicht loswerden. Solche „Visionen“ (bitte nicht pathetisch verstehen) basieren stets auf irgendwelchen Schlüsselerlebnissen, daraus entstehen die allerersten Keime eines Romans oder auch eines Gedichtes. Und solche Schlüsselerlebnisse habe ich sehr viel häufiger im Ausland – wohl aufgrund der größeren Verletzbarkeit, der größeren Offenheit, der größeren Stimmungsschwankungen. In einem Land wie beispielsweise Indien wechseln ja in schneller Folge unglaublich fantastische mit ebenso unglaublich katastrophalen Tagen; die emotionale Achterbahnfahrt, die man als Reisender – nicht als Tourist – erlebt, generiert einen Fundus an Erfahrungen, wie man sie zu Hause kaum je so schnell und heftig machen könnte. Kein Wunder, daß etwa 2/3 meiner Texte im Ausland spielen oder zumindest dort angeregt wurden.

Sie haben eben den Touristen von einem Reisenden abgegrenzt. Wo ist für Sie der definitorische Unterschied?

Zunächst möchte ich betonen, daß diese Unterscheidung wertfrei ist. Auch ich selber bin manchmal Tourist – in Zeiten, da ich erschöpft bin und Erholung in einem wärmeren, bunteren, luftigeren Ambiente suche, dabei aber nicht auf gewisse Annehmlichkeiten, wohl auch Sicherheiten, verzichten möchte: Tourismus ist für mich eine entspanntere Form des Reisens bis hin zum Pauschalurlaub. Der Reisende hingegen strotzt vor Energie. Er sucht keine Erholung, sondern will sich abarbeiten, sich einlassen, abbringen lassen von seiner geplanten Route. Er geht mit aller Wachheit und Risikobereitschaft in Länder, die es ihm durchaus auch schwer machen, in der Hoffnung, durch andere Erlebnisse belohnt zu werden, als dies im vertrauten Kontext möglich wäre.

Sie haben 1999 und 2001 mehrere Wochen in Korea verbracht. Warum Korea? Was hat Sie am meisten überrascht?

Ich bin von einer Kulturstiftung eingeladen worden und habe den Aufenthalt privat noch ein bisschen verlängert. Am meisten überrascht war ich darüber, wie wenig das Land auf Fremde eingestellt war. Die Fürsorge der koreanischen Gastgeber hatte etwas Rührendes, sie trauten einem Ausländer so gut wie gar nichts zu, wollten alles für ihn regeln, damit er es wirklich schön in ihrem Land hatte – aber eine solche Rundumbetreuung ist für unsere Begriffe natürlich etwas beengend.

In Ihrer Erzählung „Der Mann, der ein Bär war“ erzählen Sie über einen gemeinsamen Abend mit trinkfreudigen Koreanern und schreiben: „Ein Gespräch war unmöglich, anfangs hatte man nicht selten Lust, wahnsinnig zu werden…“. Was war für Sie das eigentlich Strapaziöse an dieser Begegnung? Gibt es ein Rezept für den Umgang und die Annäherung an das Fremde, das Andere, das Unbekannte?

Zunächst ist mit den meisten Koreanern die schiere Verständigung das Hauptproblem, selbst wenn sie offiziell Englisch sprechen. Das Rezept ist vielleicht, den (unfreiwilligen) Humor zu entdecken, der in Gesprächen steckt, die sich von einem Missverständnis zum nächsten hangeln. Darüber kann man ja gemeinsam lachen und vielleicht sogar noch eins draufsetzen! Natürlich ist es wichtig, das Fremde verstehen zu wollen, es zu respektieren und sich den Gepflogenheiten des Gastgebers anzupassen – zumindest bis zu einem gewissen Grad. Andererseits schadet es auch nicht, manches komisch zu finden: Lachen befreit, im Fall von Korea nicht selten auch den Gastgeber. Auch der versteht den anderen ja nicht, das „Wahnsinnigwerden“ war damals durchaus beidseitiger Natur. Am Ende blieb immerhin eine floskelhafte Minimalverständigung und der Durst – die Koreaner können einen wirklich unter den Tisch trinken. Der Humor, der dabei dann entsteht, ist Wahnsinn zweiten Grades und hat mitunter sogar etwas Völkerverbindendes. Jedenfalls habe ich diese Abende in sehr guter Erinnerung.

„Seoul ist eine sehr gute Stadt“ schreiben Sie in einem Ihrer Gedichtbände – eine sehr gute Stadt für „Friseure, Fußbodenheizungen, … Für… Tintenfischhälften… Und die Traurigkeit der Nebel …“. Was ist für Sie das Besondere an der Hauptstadt?

Seoul ist für mich fast schon die Megacity schlechthin, die selbst Tokio und New York den Rang abläuft – sie ist Sinnbild für eine immense Dynamik, wie wir sie in Mitteleuropa gar nicht mehr kennen. Dazu eine Fremdheit, die sich nicht im Schnelldurchgang dechiffrieren läßt: Besagte „Tintenfischhälften“ gibt es zwar auch in der Mittelmeerküche, aber in Seoul werden sie eben mit einer Seeigelpaste gereicht. Hier hat die Globalisierung noch nicht alles gleichgeschaltet, hier kommt man als Kosmopolit noch voll auf seine Kosten. Kosmopolitismus, das ist ja gerade die Lust am Fremden, das wechselseitige Bestaunen, die Freude an Differenzen und deren Fruchtbarmachung für das eigene Denken; der Kosmopolit ist neugierig auf das Andere, wo der globalisierte Weltbürger nur überall schnellstmöglich und reibungslos zurechtkommen will. Globalisierung bedeutet Einebnung, bedeutet immergleiche Fußgängerzonen mit im-mergleichen Waren- und Kaffeehausketten, bedeutet Verständigung in der Einheitssprache Englisch, bedeutet standardisierte Höflichkeiten.

„Literatur muß sein wie Rockmusik“ haben Sie 1995 gefordert. Was genau war damit gemeint? Gilt diese Forderung heute noch?

Damals gab eine unheimliche Dominanz an US-Bestsellern auf dem deutschen Buchmarkt, sodaß es fast von Nachteil war, deutscher Autor zu sein. Der Roman eines amerikanischen Autors galt von vornherein vielen als besser, sprich: als besser erzählt und mit größerem Vergnügen zu lesen. Meine damalige Kernthese lautete, daß die deutsche Literatur aus ihrer selbstreferenziellen Nische herauskommen müsse, daß man auch in der deutschen Literatur mit einem existenziellen Furor antreten müsse wie seinerzeit die Rockbands, um den Leser vom Hocker zu reißen. Daß es auch in einem Buch um alles und nichts gehen müsse, um nichts Geringeres. Heute würde ich die Forderung etwas anders formulieren, würde sagen: Literatur muss relevant sein. Mit einem interessant aufbereiteten Plot den Leser gut zu unterhalten reicht nicht, man muß ihn mit einem Buch dort erwischen, wo es ihm ein bisschen wehtut, wo Literatur eine Erfahrung für ihn wird statt bloßer Unterhaltung.

Gehören Sie zu denjenigen, die ein Buch zur Seite zu legen, wenn Sie sich auf Seite 2 noch nicht angesprochen fühlen?

Leider nein, ich bin ja ganz anders erzogen worden und auch durch mein Germanistikstudium geprägt. Dabei würde es die Leselust sicher fördern. Selbst viele Klassiker sind ja erstaunlich langweilig, wenn wir mal ehrlich sind. Da müssen Sie sich Hunderte Seiten quälen, um an das entscheidende Kapitel zu kommen. Sie treffen mich mit Ihrer Frage also an einem wunden Punkt. Ich habe erst spät gelernt, ein Buch zur Seite zu legen. Aber jetzt, wo die Lebenszeit schon ersichtlich kürzer geworden ist … übe ich das immerhin schon.

Koreanische Literatur fristet in Deutschland noch immer ein Nischendasein. Welche Gründe vermuten Sie und wodurch könnte sich das ändern?

Aus meiner Sicht braucht die nichtkoreanische Leserschaft zu viel Hilfestellung, um die Texte wirklich in ihrer Tiefenstruktur zu verstehen. Koreanische Autoren sind oft zu sehr in ihrem eigenen Kontext verhaftet, sie berücksichtigen beim Schreiben nicht, daß die Leserschaft im Ausland mit dem koreanischen Alltag, der Mythologie, der Historie und dem gesamten kulturellen Fundus kaum vertraut ist. Das heißt keinesfalls, daß es sich um schlechte Literatur handelt, aber Dechiffrierlust ist eben keine genuine Leselust. – Ich fand zum Beispiel einige Gedichte des koreanischen Lyrikers Kim Kwang-kyu sehr gut. Das waren aber eben Gedichte, in denen er sich aus diesem Korsett gelöst hat. Vielleicht kreisen viele koreanische Autoren, wie die deutschen vor gar nicht langer Zeit auch, ein bißchen arg um ihre eigenen Themen? Gutes Marketing für koreanische Literatur ist jedenfalls nutzlos, wenn die Inhalte nicht vermittelbar sind.