Warum zieht es uns in die Ferne?

Warum zieht es uns in die Ferne?Interview: Andreas Baumer

erschienen/erscheint bei:

Augsburger Allgemeine, 10.4.2017.

Entstehungszeitraum: 08/04/2017

Interview (Kompletter Text)

Verändern sich Menschen mit ihrem ersten Marathonstart?

Sie verändern sich von dem Moment an, in dem sie sich dazu entschlossen haben. Die Monate vor dem Rennen lebt man dann ja wesentlich strukturierter als bislang. Und die Grenzerfahrung des Marathons findet auch nicht erst beim Rennen selbst statt; schon auf dem langen Weg zur Startlinie gibt es viele Grenzerfahrungen zu machen: Größenwahn, Erschöpfung, Selbstzweifel, Selbstüberwindung …

Welchen Umgang mit den Höhen und Tiefen haben Sie für sich gefunden?

Emotionale Achterbahnfahrten selbst innerhalb eines einzigen Laufs gehören nun mal dazu, ein Mittel dagegen gibt es nicht. Und gerade deshalb wollte ich darüber schreiben. Während einer Marathonvorbereitung lernt man nicht nur das Laufen, sondern das Menschsein an sich nochmal von der Pike auf neu.

Haben Sie ein Beispiel für uns?

Eines eisigen Wintertages habe ich mich mal im Alstertal furchtbar übernommen. Der Boden war komplett gefroren, man rutschte und strauchelte nur so dahin, bei einem Sturz zerriß ich mir die Hose und war nach zwei Stunden so ausgepowert, daß ich gehen mußte. Und nach weiteren 20 Minuten erneut. Zu Hause habe ich mir zum ersten Mal in meinem Leben ein Bier auf nüchternen Magen reingezogen. Bei einer zweiten Flasche habe ich die Niederlage mit meiner kopfschüttelnden Frau dann schon fast gefeiert.

Und die erhabenen Momente?

Die auf der Ziellinie natürlich. Oder wenn man leer wird und in die Trance rüberläuft. Vergleichsweise bescheiden, aber immer noch erhebend empfinde ich den Moment, wenn ich eine Hamburg-Karte ausbreite, mir die Endhaltestelle irgendeiner S-Bahn ausgucke und von dort eine neue Strecke zurück nach Hause überlege. Erobere ich tagsdrauf das Neuland auch in der Realität, dann weiß ich wieder, warum ich die langen Wochenendläufe so liebe. Von meiner Schulzeit an bin ich – wo auch immer auf der Welt – einfach losgerannt in die Wälder und Felder oder bis zur Rückseite einer Stadt, die ich bislang nur von vorne kannte. Das hat mir auch als Schriftsteller manchen neuen Horizont eröffnet und brachte oft mehr als gezielte Recherche. Zum Wettkampfläufer bin ich erst Jahrzehnte später geworden.

Ist Ihnen Laufen schon zur Sucht geworden? Könnten Sie noch ohne?

In der Trainingsphase lasse ich mich voll darauf ein, in der trainingsfreien Zeit sage ich mir jedoch: Jetzt genieß auch mal wieder all das, worauf du drei Monate verzichtet hast. Wenn mit dem Genuß irgendwann auch die Melancholie einsetzt, wird man ganz von selber wieder umschalten und regelmäßig laufen. Ich kenne keinen, der nach einem Lauf schwermütig unter der Dusche steht.

Richtet sich Ihr Buch an alle vom Zweieinhalb- bis Sechsstundenläufer oder sollte man es eher als Ratgeber lesen?

Tatsächlich haben mir ehemalige Spitzenathleten nach der Lektüre berichtet, daß die Hoffnungen und Sehnsüchte, wie ich sie als Freizeitläufer beschrieben habe, in ihrer Leistungsklasse die gleichen sind. Ich weiß aber auch von vielen absoluten Nichtläufern, die das Buch gelesen und ihr Vergnügen dabei gefunden haben. Schließlich geht es in keinem der Kapitel ums Laufen allein, und praktische Tips gibt es bestenfalls en passant. Im Zentrum steht hingegen alles, was sich anhand des Laufens und seiner Randparameter über Läufer sagen läßt, über Mann und Frau, den Menschen an sich, das Leben.

Was sagt dies über unsere Wohlstandsgesellschaft aus?

Die Begeisterung für Marathon ist ein Indikator für die Defizite unserer Zeit. Wir leben in der Endphase einer Luxusgesellschaft, die sich durch den Breitensport ein gutes Ventil dafür geschaffen hat, was in archaischeren Kulturen als Aggressivität ausgelebt wird. In Afrika läuft niemand – außer um zu jagen, zu fliehen oder um Geld zu verdienen. Einfach zum Vergnügen zu laufen, das muß sich eine Gesellschaft über Generationen hart erarbeitet haben! Andrerseits geht es beim Marathontraining natürlich auch um Selbstoptimierung, was unserem kapitalistischen System mit seiner Perfektionierung von Arbeitsprozessen bestens in die Hände arbeitet.

Davon können sich Marathonläufer ja auch nicht ganz freimachen, oder?

Vorausgesetzt, wir treten nicht von vornherein als Genußläufer an oder weil wir’s uns (oder wem immer) einmal im Leben beweisen müssen, wollen wir bei einem Rennen tatsächlich das Maximum aus uns rausholen – darin besteht ja die Idee eines Rennens. Dazu kommt, daß sich ein Großteil unsres Lebens mittlerweile nur noch digital abspielt. Die direkte Erfahrung der eignen Körperlichkeit, das An-Grenzen-Gehen und darüber hinaus – das suchen viele Menschen. Wissen Sie, was vielleicht das Schönste am Marathon ist?

Sagen Sie es uns.

Daß es etwas Ernstes ist. Und nicht etwa – auch wenn viele Veranstalter es dazu machen wollen – nur ein weiterer Teil unsrer Spaß- und Eventkultur. Der Tag des Marathons verspricht nicht, ein großes Vergnügen zu werden. Sondern der Tag der Wahrheit. Und er belohnt uns im Ziel dann auch mit etwas Großem: dem Glück, die eignen Schmerzen besiegt und dadurch etwas geschafft zu haben, das man sich nicht kaufen kann.