Weltwirklichkeit erleiden

Weltwirklichkeit erleidenGespräch mit Michael Weiland

erschienen/erscheint bei:

Szene Hamburg, März 2009

Entstehungszeitraum: 18/02/2009

Interview (Kompletter Text)

Herr Politycki, in Ihrem jüngsten Buch In 180 Tagen um die Welt kommt Ihr Protagonist Johann Gottlieb Fichtl bei seiner Weltreise auf der „MS Europa“ am 160. Reisetag ans Horn von Afrika. Wie wohl würden Sie sich in seiner Haut derzeit dort fühlen?

Als ich 2006/07 an Bord der „Europa“ war, galt nicht das Horn von Afrika, sondern die Straße von Malakka als die Schiffahrtsroute mit dem weltweit höchsten Piratenaufkommen. Und unser Käptn fuhr da zum x. Mal durch, vollkommen gelassen.

Ist Ihre nächste Reise schon geplant oder gar gebucht?

Sie hat ja längst angefangen und ist noch immer nicht zu Ende – die Lesereise mit dem Fichtl Hannes, sozusagen „In 50, 60 Stationen rauf und runter quer durch Deutschland“.

Fichtl scheint ein moderner Phileas Fogg zu sein, der Held von Jules Vernes berühmtem Buch, auch wenn er 100 Tage länger für die Weltumrundung braucht. Haben Sie Jules Vernes „In 80 Tagen um die Welt“ vor der Abfassung Ihres Buches wieder gelesen?

Das nicht; aber als Kind, etwa im Alter von 12, 13 Jahren, dafür umso öfter. In manchen Rezensionen wurde mein Buch tatsächlich als feinsinnige Kontrafaktur von Jules Verne betrachtet – aber da hat der Kritiker mehr aus dem Text herausgelesen als ich hineingesteckt habe.

Auf Ihrer eigenen Weltreise entstand nicht nur das „Logbuch“ des Finanzbeamten Fichtl, sondern auch eine Doppel-CD, ein „Hörspiel“ unter dem Titel Das Schiff, mit Interviews der Mannschaften, Original-Geräuschen und -Musik von Bord. Wie kam es zu dieser Idee?

Die hatte Wolfgang Stockmann, ein befreundeter Regisseur – er kam während meiner Reise dreimal an Bord, um Aufnahmen zu machen. Mich selber ließ er nur ein paar wenige Anekdoten aus dem entstehenden Roman lesen, sozusagen als roten Faden.

Ihr Hausverlag ist Hoffmann und Campe. Warum erschien In 180 Tagen um die Welt bei Mare?

Weil es Niko Hansen gewesen war, der damalige Leiter des Mare-Buchverlags, der meinen Namen ins Spiel brachte, als die Reederei Hapag-Lloyd mit der Idee eines „Schiffsschreibers“ auf der „MS Europa“ spielte. Als ich die Einladung dann tatsächlich erhielt, war ich ihm das Buch gewissermaßen schuldig – jedenfalls sah man es auch auch bei HoCa so.

Sie sagten vor kurzem, Sie seien an Bord gegangen, „um zu staunen und zu lernen“. Was haben Sie auf Ihrer Kreuzfahrt gelernt?

Oh, sehr viel! Zum Beispiel, daß man bei den Landgängen wohl deshalb stets das meiste verpaßt, damit man das Wesentliche einer solchen Reise erkennt, das Meer. Zum Beispiel, daß man an Bord nicht nur die Mitmenschen auf intensivere Weise kennenlernt als an Land, sondern vor allem sich selber! Schließlich, daß eine Kreuzfahrt trotz aller „Traumschiff“-Fassaden eine todernste Angelegenheit ist. Über die man nur heiter schreiben kann, so heiter wie möglich, Humor ist ja eine andere Zustandsform von Melancholie.

Soeben ging In 180 Tagen um die Welt in die sechste Auflage, die siebte scheint schon nicht mehr fern. Wie erklären Sie sich diesen enormen Erfolg?

Ach, zunächst mal freue ich mich einfach drüber! Schließlich schreibe ich nicht für mich selbst – ein Schriftsteller ist für mich ein Dienstleister, der sein Vergnügen am Stoff mit anderen teilen will. Obwohl dieser Stoff – die Kreuzfahrt – ja schon länger in Deutschland boomt, ist In 180 Tagen um die Welt, soviel ich weiß, der erste deutschsprachige Roman zum Thema. Und nebenbei auch eine ziemlich lückenlose Abrechnung mit unsrer bundesrepublikanischen Luxusgesellschaft; die deutsche Zeitgeschichte ist seit der Wiedervereinigung ja auch im Westen weitergegangen, und wie! Als ob das, was anhand der Weltwirtschaftskrise nun allerorten diskutiert wird, auf satirische Weise in diesem Buch vorweggenommen wurde – das Thema hat uns mittlerweile alle erreicht, leider auf völlig humorlose Weise.

Man spricht in Deutschland viel über „Wende-“ oder „Vorwende“-Romane, Sie aber gehen literarisch auf Weltreise, schicken Ihre Leser in ihrem vorletzten Roman Herr der Hörner nach Kuba, in Ihren Erzählungen Das Schweigen am andern Ende des Rüssels schon einmal rund um die Welt, allerdings auf dem Landweg – ein Gegenentwurf zur Gegenwartsliteratur?

Kein bewußter, mir brennen die Fragen der Gegenwart einfach mehr auf den Nägeln als die der Vergangenheit, schließlich weisen die möglichen Antworten darauf in unsre unmittelbare Zukunft. Und wenn man sich länger im Ausland herumtreibt oder sogar eine Weile dort lebt, dann erscheinen unsere deutsch-deutschen Probleme nicht mehr ganz so wichtig, sie tun ja schon dem westdeutschen Leser nicht wirklich weh, im Gegenteil, lenken grandios von den aktuellen Problemen ab. Man versäumt viel, wenn man im eigenen Saft brodelt.

Der Weiberroman hatte am Ende eine Fortsetzung in Ein Mann von vierzig Jahren, im 2005 erschienen Herr der Hörner war die Hauptfigur 50 Jahre alt – also immer im Alter des Verfassers. Wie viel Politycki steckt in Ihren Protagonisten?

Natürlich stecke ich ein wenig in allen meinen Figuren, und zwar nicht nur in den Haupt-, sondern auch in den Nebenfiguren. Wie sonst könnte man sie authentisch schildern? Vom literarischen Verwursten der eignen Biographie halte ich aber wenig.

Ihr neues Buch Die Sekunden danach, ein Band mit 88 Gedichten, erscheint Mitte Februar; die Texte entstanden hauptsächlich im Svendborger Exil-Haus von Bert Brecht, sogar in dessen Arbeitszimmer. Aber Bezüge zu Brecht sucht man in Ihrem bisherigen Werk doch wohl vergeblich?

Das stimmt, abgesehen von seinen Liebesgedichten habe ich keine große Beziehung zu Brecht. Hingegen zum dänischen Brecht-Hause schon! Und mittlerweile auch zur Stadt und zum Land, ich habe dort immer gern gelebt und geschrieben.

Dieser Gedichtband enthält Sonette, Balladen, Oden und Terzinen – neben freien Rhythmen, Gereimtes und Ungereimtes, Anklänge an Goethe und Saloppes: Ist das nicht ein wenig inhomogen? Oder drängt sich da Ihre Vergangenheit als Uni-Germanist nach vorn?

Aber das, was Sie als „Inhomogenität“ empfinden könnten, ist für andere ja gerade der Reiz an der Sache, die große Bandbreite der Formen! Die Arbeit damit ist nicht zuletzt Ausdruckstraining, um die Bandbreite der Stoffe angemessen auf den Punkt zu bringen; im übrigen schafft sie eine konzentrierte Beweglichkeit auch für freie Formen, so daß diese nicht ins Beliebige entgleiten. Dazu muß man nicht Germanist gewesen sein, das macht jeden echten Lyriker aus.

Letzte Frage: In Ihrem Essayband Die Farbe der Vokale forderten Sie vor rund einem Jahrzehnt: „Literatur muß sein wie Rockmusik!“ Wo hört man denn zur Zeit den härtesten Sound, wer spielt die Heavy Metal-Klänge der Gegenwartsliteratur?

Ehrlich gesagt, das weiß ich nicht. Obwohl ich selber mit meinen Büchern Teil der Gegenwartsliteratur bin, nehme ich das meiste davon längst nicht mehr so wahr wie früher; ich lese ja nicht aus Lust, sondern um zu lernen, und da nehme ich mir derzeit eher Bücher vor, um die ich jahrelang einen Bogen gemacht habe: den „Ulysses“ zum Beispiel.

Also Tradition statt Trend…?

Wie gesagt, Lesen ist für mich Arbeit, ist in Gedanken stets auch ein Mit-, ein Gegen-, ein Umschreiben; und an einer Erzählung von Nabokov oder, sagen wir, an Sternes „Tristram Shandy“ kann ich halt immer noch mehr lernen als an der gesamten Bestsellerliste.

Herr Politycki, vielen herzlichen Dank für das Gespräch!