Wie ich schreibe. 18 Fragen an Matthias Politycki

Wie ich schreibe. 18 Fragen an Matthias PolityckiInterview: Markus Wüest

erschienen/erscheint bei:

leicht gekürzt in: Basler Zeitung, 25/4/15

Entstehungszeitraum: 23/04/2015

Interview (Kompletter Text)

Herr Politycki, wir stellen uns Schriftsteller ja mehr als sportfeindliche Eremiten vor, die ihrer Inspiration im Zweifel mit allen möglichen kleinen Helfern auf die Sprünge helfen. Sie schwören aufs Laufen, Marathon sogar. Warum?

Mit den immergleichen Helfern läuft man Gefahr, zu den immergleichen Ergebnissen zu kommen. Wenn man sich halbwegs fit hält, kann man manchmal Stoffe für den Leser holen, die man ohne Training gar nicht erfahren (geschweige bewältigt) hätte.

Läuft es letztlich auf die Erkenntnis der alten Römer hinaus: ein gesunder Geist in einem gesunden Körper?

Haruki Murakami, der japanische Autor, behauptet ja sogar, ein ungesunder Geist wie der eines Schriftstellers brauche einen besonders gesunden Körper. Was sicher stimmt, ist: Keiner schreibt freiwillig. Die Grundstimmung eines Schriftstellers ist, glaube ich, mal mehr, mal weniger melancholisch, depressiv oder traurig. Dagegen schreibt er an, überwindet es durch Schreiben. Wenn man Marathon trainiert, stellt sich zwangsläufig ein neues Problem: Es ist zwar eine furchtbare Schinderei, aber es macht auch furchtbar gute Laune. Wer für Marathon trainiert, kann auf Dauer nicht melancholisch sein. Vielleicht ist das auch mal nicht schlecht für einen Schriftsteller.

Was ändert sich?

Die Einfärbung der Stoffe wird eine andere, der Druck hinter jedem Satz, das Erzähltempo. Wenn man gut im Training ist, hat man auch am Schreibtisch eine andere Präsenz. Man könnte ja glauben, daß durch das umfangreiche Laufpensum viel Zeit verloren geht; aber die gewinnt man locker zurück. Schon beim Laufen selbst hat man überraschend viele Einfälle. Ganz andere Einfälle als am Schreibtisch.

Wenn es mit dem Formulieren mal hakt, können ein paar Schritte im Büro sehr hilfreich sein. So viel kann ich aus eigener Erfahrung beisteuern.

Dabei wird das Gehirn tüchtig durchgeruckelt, halbfertige Gedanken werden neu sortiert. Wenn ich zurück bin von einer Einheit, notiere ich meist vor dem Duschen etwas auf.

Aber Sport- und Literaturwelt sind schon sehr verschieden. An einer Stelle beschreiben Sie das blaue Band, das beim Marathon die Ideallinie markiert und in Hamburg auch am Literaturhaus vorbeiführt. Bei der Gelegenheit stellen Sie fest, dass weder die Läufer vom Literaturhaus Notiz nehmen noch die Literaturfreunde vom Marathon.

Das ist schade, denn eigentlich laufen Ausdauersport und Romanschreiben auf etwas Ähnliches hinaus: die Bewältigung einer ziemlich langen Strecke. Oder denken Sie an Hemingway, der hat bekanntlich geboxt, war Großwildjäger und Hochseeangler. Er hat sich auch körperlich in gewisse Situationen gebracht, die er für uns Leser dann wunderbar in Literatur verwandeln konnte. Trotzdem halten wir an unserem einseitigen Klischee vom Schriftsteller fest: Warum sollte der, wenn er seinen Text bei einer Lesung schlechtlaunig in sein Rotweinglas hineinnuschelt, „authentischer“ sein als ein Kollege, der gut gelaunt, gut vorbereitet und vielleicht auch noch fit ist?

Aber kennen Sie viele Kollegen, die das ähnlich sehen?

Nein, das ist das Überraschende. Günter Herburger ist bislang der einzige Langläufer unter den deutschen Schriftstellern – und Haruki Murakami unter den internationalen.

Durch ihr Lauf-Buch lernen sie jetzt auch ganz andere Medienvertreter kennen.

Aber auch andere Leser als die, die ich mit meinen bisherigen Büchern erreicht habe. Läufer sind ja keine Subspezies, deren Leben sich ausschließlich ums Laufen dreht. Es sind Leute wie Sie und ich, und weil sie aus verschiedenen beruflichen Zusammenhängen kommen, sind die gemeinsamen Läufe so interessant. In Läufercliquen wird sehr offen miteinander geredet, ohne jede politische Korrektheit. Da erfährt man andere Wahrheiten über unsre Gesellschaft als aus der öffentlichen Diskussion, und auch das ist für mich als Schriftsteller ein Input, den ich am Schreibtisch nicht bekäme.

Das war offenbar auch Auslöser für dieses Buch.

Stimmt, ich wollte ja kein Laufbuch im engeren Sinne schreiben, sondern eines, das übers Laufen im Blick auf unser Leben nachdenkt. Also beispielsweise darüber, was uns in unserem gesellschaftlichen und beruflichen Alltag wohl fehlen mag, daß wir so viel Ersatzbestätigung und Lebensstrukturierung von einer Freizeitbeschäftigung erwarten. Warum diese Sehnsucht nach Ernst, wenn nicht aus Überdruß an unsrer infantilisierten Eventgesellschaft? Irgendwann habe ich in meinen Laufcliquen gezielt nach Antworten gefragt. Wir sind umzingelt von Spaßmachern, hieß es dann: Aber Marathon ist ernst, das ist ja das Tolle daran. Immer wieder kam auch die Sehnsucht nach einem Wir-Gefühl zur Sprache, das in der Läufergemeinschaft ganz selbstverständlich zu haben ist. Was sagt das wiederum über unsre Gesellschaft aus, ist sie wirklich so individualistisch geworden, wie behauptet wird?

Und Laufen ist das Gegenmodell?

In Läufercliquen ist das Wir jedenfalls deutlich zu spüren. Da kann man sich aufeinander verlassen, auch wenn man einander vielleicht gar nicht persönlich kennt, und es kommt selbst zwischen Fast-Fremden zu wunderbaren menschlichen Gesten. Laufen ist für mich kein einsamer Sport, in seinen glücklichsten Momenten ist es tatsächlich ein Mannschaftssport. Wenn ich merke, mein Kumpel braucht jetzt Unterstützung, dann treibe ich ihn an. Und wenn ich selbst in eine kritische Phase komme, dann läuft er für mich mit. Dieses Füreinander-Dasein ist etwas, das der Mensch braucht, es macht ihn glücklich weit übers bloße Laufen hinaus.

Brauchen Sie als Autor den Kitzel der persönlichen Grenzerfahrung?

Anscheinend ja, freilich ohne dass ich es irgendwann aktiv zu meinem Programm gemacht hätte. Für meinen Roman „Samarkand Samarkand“ war ich Bergsteigen im zentralasiatischen Hochgebirge. Das hat mich an meine Grenzen geführt, physisch und psychisch. Den Biß, trotzdem dran zu bleiben, verdanke ich dem Marathontraining. 25 Jahre habe ich zuvor versucht, den Roman am Schreibtisch zu schreiben; gelungen ist es mir erst durch diese Gebirgswanderung. Da oben habe ich notiert, notiert, notiert. Die Sätze, die man direkt vor Ort schreibt, sind andere als die, die man am Schreibtisch schreibt. Sie bewirken einen ganz anderen Sound, einen anderen Sog im Text. Und es passieren andere Geschichten als diejenigen, die man sich „einfach so“ ausdenken könnte. Von diesen meinen Grenzerfahrungen versuche ich, so viel wie möglich in Form von Büchern an die Leser zurückzugeben.

Ich würde ja, nebenbei gesagt, auch Ihren Bier-Führer „London für Helden. The Ale Trail“ als Marathon durchgehen lassen.

Ja, das war wohl einer (lacht). Und wie beim echten Marathon war auch da das Entscheidende: Man muss die Richtigen haben, die einen dabei begleiten.

Schön auch, dass sich Leidenschaft für Marathon und Bier offenbar nicht ausschließen.

Wenn man gewisse Zielzeiten anstrebt, wird man monatelang nur sehr reduziert Alkohol trinken. Umso mehr freue ich mich auf den Tag des Wettkampfs, weil wir abends natürlich alle auch den Lauf begießen. Anders wär’s schade.