„Wir neigen inzwischen zur Selbstzensur“

„Wir neigen inzwischen zur Selbstzensur“Interview: Christine Zinner

erschienen/erscheint bei:

Donau-Kurier, 12.4.2023; zur Seite des Donau-Kuriers

Entstehungszeitraum: 07/04/2023 - 10/04/2023

Interview

Herr Politycki, ist Ihr neues Buch „Alles wird gut“ nicht eine kulturelle Aneignung? Sie als weißer deutscher Mann schreiben einen Roman über Äthiopien.

Seit mich der Stoff vor etwa drei Jahren überfallen hat, wird mir diese Frage ununterbrochen gestellt – meistens mit einem Augenzwinkern. Dabei geht es hier gar nicht um Aneignung, sondern um den wechselweisen Austausch zwischen Kulturen. Wir müssen miteinander im Gespräch bleiben, gerade auch in dirigistischen Zeiten. Meine Eltern haben eine radikale Form der Abschottung von Information im Dritten Reich erlebt. Sie haben mir eingeschärft, dass jeder einzelne die Aufgabe hat, über Grenzen zu gehen, sich selber ein Bild von der Fremde dahinter zu machen und, wenn’s geht, Freunde zu gewinnen. Das mache ich bei meinen Reisen – und auch beim Schreiben.

Woke Kreise aber sind schnell mit dem Vorwurf der kulturellen Aneignung bei der Hand. Was verstehen Sie unter Wokeness?

Zunächst mal eine Bewegung, die aus den USA kommt und in ihrem Ansatz viel Gutes hat. Im Wesentlichen will sie darüber nachdenken, wie wir mit Minderheiten und benachteiligten Gruppen umgehen beziehungsweise über sie reden. Allerdings hat sich die Bewegung mittlerweile radikalisiert, der positive Grundimpuls ist umgekippt in eine Maßregelung unsrer Sprache und damit unsres Denkens. Das provoziert ähnlich radikale Reaktionen auf der Gegenseite, zerstört unsre Diskussionskultur und spaltet die Gesellschaft.

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