Samarkand Samarkand
Samarkand Samarkand
Hoffmann und Campe Verlag, 16. August 2013
400 Seiten, gebunden
€ 22,99
ISBN 978-3-455-40443-2
Übersetzungen
Weitere Formate und Veröffentlichungen
Samarkand Samarkand (Taschenbuchausgabe)
erschienen/erscheint bei:
Goldmann, 16. März 2015
Broschur, ca. 397 Seiten, 11,8 x 18,7 cm
ISBN: 978-3-442-48142-2
ca. € 9,99 [D] | € 10,30 [A] | CHF 14,90* (* empf. VK-Preis)
E-Book "Samarkand Samarkand"
Als E-Book erschienen am 16.8.2013 bei Hoffmann und Campe
Dateigröße: 2,1 MB
Seitenzahl der Print-Ausgabe: 400 Seiten
€ 17,99
Kindle-Edition bei amazon.de: http://www.amazon.de
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Über das Buch
Er hat keinen geringeren Auftrag, als die zivilisierte Welt vor dem endgültigen Untergang zu retten: Alexander Kaufner, ehemaliger Gebirgsjäger und Grenzgänger, reist bis ins zentralasiatische Samarkand, um dort als Agent des Westens eine geheimnisvolle Kultstätte zu finden, von der ein jahrhundertealter Zauber auszugehen scheint. Doch können Erfolge in einem Krieg, der seit Jahren tobt, können Sieg oder Niederlage tatsächlich von einem Haufen heiliger Knochen abhängen? Zusammen mit seinem Bergführer Odina, der ihm durch den Ehrenkodex seines Stammes verpflichtet ist, und beschützt durch das wunderliche Mädchen Shochi, das über die unheimliche Gabe verfügt, die Zukunft träumen zu können, durchwandert Kaufner die gewaltige Bergwelt Zentralasiens. Schritt für Schritt gerät er dabei tiefer ins Herz einer Finsternis, beherrscht vom „Gesetz der Berge“, das keine Indizienbeweise kennt. Und gerät dabei zusehends in einen Wettlauf auf Leben und Tod, nicht zuletzt gegen sich selbst.
Samarkand Samarkand ist literarischer Abenteuerroman, Liebes- und Untergangsroman zugleich. Geschichtenprall und bildmächtig erzählt er von Freundschaft und Selbstüberwindung, von Opferbereitschaft und der Konfrontation mit der Fremde, in der die großen existentiellen Fragen neu gestellt werden.
Leseprobe
Als die Dämmerung einsetzte und die Deutschen zu rennen anfingen, auf daß sie noch rechtzeitig nach Hause kamen, rief der Muezzin vom Turm der St. Johannis-Kirche zum Gebet. Wie immer antworteten die Russen von der anderen Alsterseite mit Maschinengewehrsalven, kurz darauf mit russischem Hardrock. Sie hatten die Minarette der Blauen Moschee, in der sie ihr Hauptquartier eingerichtet, mit solch gewaltigen Boxen bestückt, daß die Musik über der zugefrorenen Alster stand, ohne zu verzerren. Vom Gesang des Muezzins war nichts mehr zu hören, stattdessen das Gedröhn der Geschütze, die nun von türkischer Seite abgefeuert wurden. Auch wenn keine einzige Rakete in den Himmel steigen würde, sobald um Mitternacht das ’27er-Jahr anbrach, gehörig knallen würde es, das stand fest. Dazu hatte es in den letzten Tagen zu viele Provokationen gegeben, die Selbstmordanschläge rund um Weihnachten im russisch kontrollierten Ostteil, die Rachefeldzüge der Todesschwadronen durch den Westteil. Ohnehin wurde nach Einbruch der Dunkelheit auf jeden geschossen, den Milizen, Jugendbanden oder Scharfschützen entdecken konnten. An den Demarkationslinien der geteilten Stadt rüstete man selbst heute zum Häuserkampf, Straßen und Plätze leergefegt. Nur auf der Krugkoppelbrücke, wo nachts immer der Deutschenstrich war, herrschte bis zum Morgengrauen Waffenstillstand, Freischärler wie reguläre Soldaten kamen von beiden Seiten. Kaufner war öfters dort gewesen, solange er noch eine Hoffnung gehabt und gesucht hatte, sogar bis zum Anbruch der Ausgangssperre gesucht hatte, obwohl er sich damit beim Heimweg in Lebensgefahr gebracht. Überall Straßensperren, Kontrollpunkte, glücklicherweise kannte er fast alle, die auf Dächern, in Hauseingängen, hinter Barrikaden oder Müllcontainern ihr Terrain bewachten. Der Krieg war zum Alltag geworden, man hätte sich damit arrangieren können, wenn man es gekonnt hätte. So ging es nun schon seit eineinhalb Jahren; wenn nicht bald einmal jemand aufstand und ein Ende machte, würde es immer so weitergehen.
Erstes Buch
Der Atem des Kirgisen
Überm Gegenhang kreisten die Adler. Doch das wäre noch kein Hinweis gewesen, in diesen Gebirgen kreisten sie immer. Selbst daß der Esel zunehmend scheute, endgültig bockte, als er die Hängebrücke erreichte, erlebte Kaufner nicht das erste Mal. Die Brücken hatten ihm selber schon manches abgefordert; diese hier – am Ende der Schlucht, wo der Weg eine Spitzkehre machte – bestand bloß aus zwei straff gespannten Stahlseilen, übers talwärts schießende Wasser gespannt, und einigen Brettern, die in loser Folge quer darüberlagen.
Niemals zuvor hatte Kaufner solch wütende Wasser gesehen wie in diesen gottverlaßnen Tadschikengebirgen. Auch heute hatte er sie brüllen hören, lange bevor die Schlucht erreicht war, ein gleichmäßig dunkles Donnern. Spätestens mit Eintritt in die Schlucht wäre es ihm früher bang geworden, bang vor dem schieren Element, wie’s voller Haß hinabstürzte, weil die Berge in diesem Land viel zu steil aneinandergefügt und die Schluchten viel zu eng waren, die Felsbrocken viel zu groß, die sich an ihrem Grund verkeilt. Kaufner, mit seinen 58 Jahren ohnehin einer, den so schnell nichts mehr schrecken konnte, hatte sich daran gewöhnt, er kannte diese Art Sturzbäche seit Monaten, die Brücken, die sofort zu schwingen begannen, wenn man sie betrat.
Der Esel bockte nahezu bei jeder dieser Brücken, bei Bächen und Flüssen nicht minder, wenn er hinein sollte, um einen Übergang zu suchen. Eiskalt waren die Wasser und brutal, man brauchte kein Esel zu sein, um davor Respekt zu haben. Odina schlug ihn mit dem Stock, dann mit der flachen Hand, beschwor ihn, „Paa-tschup!“, beschimpfte ihn, „Jech!“, umfaßte ihn plötzlich mit festem Griff von hinten, drückte sich an ihn, preßte ihn mit den Hüften ein paar Zentimeter voran, ließ ab, wischte sich die Stirn. Verrutschte das Gepäck, „Tschee!“, zog die Gurte fester, „Schusch!“, immer auf den Esel einredend.
Kaufner, der zu dem Jungen aufgeschlossen hatte, nützte die Gelegenheit, den Rucksack abzuwerfen. Verfluchter Weg! Der kaum mehr war als eine Abfolge an Wegmarken im Fels, ein Schäferpfad, von vertrockneten Schafsköteln markiert und vertrockneten Gräsern und Disteln. Seit Stunden waren sie die Schlucht bergauf geklettert, auf Tadschikisch hieß sie angeblich Das Tal, in dem nichts ist, nicht mal zu Mittag hatten sie ordentlich gerastet, weil … es anders nicht ging, hier oben konnte jeden Tag der Winter einbrechen, sie hatten keine Zeit zu verlieren. Wenn nur der Berg nicht so steil gewesen wäre, an dem sie sich hinaufarbeiten mußten, immer mit einem Bein überm Abgrund, tief unten das graue Band des Baches. Bloß nicht jetzt noch in die Tiefe sehen. Schau auf die Staubfahne, wie sie übern Gegenhang zieht. Schau auf den Kobrafelsen, den ihr gerade passiert habt. Der Junge hat recht, er ähnelt tatsächlich einem Kobrakopf. Und jetzt schaff dir den Staub aus dem Schlund.
Als Kaufner sich anschickte, seinen Hals freizuräuspern, sah er Odina und den Esel, zu völliger Reglosigkeit erstarrt, dem Hineinlauschen in die Bergwelt ergeben. Kaufner vergaß das Kratzen im Hals. Doch zu vernehmen war nur die anhaltende Wut des Wassers, wie es sich die Klamm hinabstürzte. Kaufner kniff die Augen zusammen, plötzlich wurde ihm alles wichtig in dieser eintönig öden Felslandschaft, sah auf die gegenüberliegende Wand, in der, vereinzelt von verdorrten Stauden markiert, der Pfad weiterlief, bald an Höhe gewinnend. Das Tal, in dem nichts ist …
Bis Odina plötzlich ein kaum vernehmbares „Der Kirgise!“ aufzischen ließ, mit der halb erhobenen Hand jedweden Mucks Kaufners untersagend, sich nach endlosen Sekunden mit einem kaum gehauchten „Allah …“ aus der Anspannung lösend. Im nächsten Moment hatte er das Halfter des Esels gepackt, zerrte ihn weg von der Brücke. Schob drückte zog ihn den Pfad zurück und dann steil hangaufwärts, hinter den Kobrafelsen, wo er ihn sogleich zu Boden warf, „Nechtarat chot-chot“. Kaufner, der kaum hinterhergekommen und in der Eile des abduckenden Zusammenrückens dann noch fast unters Gepäck geraten, konnte ihm mit Mühe „Der Kirgise?“ zuflüstern, „Meinst du den Januzak, von dem du öfter –?“
Odina, nun blitzte selbst ihm einmal die Angst aus den Augen. Er bedeutete Kaufner, nein, befahl ihm mit einem Blick zu schweigen. Kaufner hatte Zeit, die Graffiti zu betrachten, die in arabischer, kyrillischer, lateinischer Schrift in die umliegenden Felsen eingemeißelt waren. Bis es auch er endlich hören konnte, da pfiff sich einer ein Liedchen, während er irgendwo auf der anderen Seite der Schlucht den Weg bergab kam.
Aber der war doch noch weit weg? Warum beflüsterte Odina denn jetzt schon den Esel, „Chche!“, drückte ihn erneut zu Boden? Kaufner hockte, lauschte, starrte. Verfluchte Schlucht! So schmal, daß für ein vernünftiges Versteck einfach kein Platz war. Mochte man auch nurmehr fünfzig Kilometer von Samarkand entfernt sein, so würde doch das, was gleich passieren mußte, nicht in tausend Jahren dort unten bekannt werden.
Verfluchter Berg! Bereits Tage zuvor war von den Ausreitungen zu hören gewesen. Wäre das Serafschantal nicht über Nacht von den Tadschiken abgeriegelt worden, Odina und er hätten sich den Weg über die grüne Grenze sparen können. Angeblich hatten die Usbeken angefangen, in Wirklichkeit waren wahrscheinlich ein paar betrunkene Tadschiken auf ihren Pick-ups ins nächstgelegene Usbekendorf gefahren und hatten auf jeden gefeuert, dessen Augen ihnen nicht rund genug aussahen. Verdammter Arierwahn! Ausgerechnet hier, in diesem vergeßnen Weltwinkel, wurde’s nach ein paar Wodkas stets stramm völkisch, und als Deutscher war man zwangsläufig mit von der Partie, von jedem dahergelaufenen Bauern gleich als Bruder vereinnahmt – wenn Kaufner das geahnt hätte, als er den Auftrag angenommen! Junge arbeitslose Tadschiken, denen der Reichtum, der angebliche Reichtum usbekischer Händler seit je ein Dorn im Auge war, und ihretwegen mußte er jetzt … Aber egal, die Einzelheiten würde man drüben erfahren.
Immerhin hatte der Junge einen Ausweg gewußt, quer übers Turkestangebirge und durch eines der wenigen Schlupflöcher zwischen beiden Staaten – „Hundert Prozent sicher, Herr, die Schmuggler benützen ihn auch“ –, deren Grenzverlauf ansonsten mit Bodenminen gesichert war. Immerhin hatten sie das Mausoleum, von dem er seit Tagen gesprochen, gestern abend erreicht; bevor sie heute aufgebrochen waren, hatte Kaufner noch einen Blick in die Krypta geworfen, während Odina draußen sein Taschentuch zerrissen und eine der Hälften in die Zweige des Wunschbaums geknüpft hatte, wo bereits allerhand bunte Fetzen im Wind –
Daß er sich sich nur so vergessen hatte können! Kaufner fuhr auf, lugte hinterm Felsen hervor. Und hätte sich beinah verschluckt vor Schreck. So nah schon? Wie kommt der denn so schnell den Berg runter? Gut, daß der Abgrund noch zwischen uns ist. Schad, daß er sich so vermummt hat. Bis auf den Sehschlitz in helle Tücher eingewickelt, genauso, wie er immer beschrieben wird. Und hüpft über die Felsen! Als wär’ er bei sich zu Hause.
Alle im Gebirge hatten diesen wiegenden Gang, alle, die hier aufgewachsen oder im Lauf der Jahre gelernt hatten, die Kraft der Berge Schritt für Schritt zu ihrer eigenen zu machen. Bereits am Gang konnte man erkennen, ob man sich auf eine gefährliche Begegnung einzurichten hatte oder ob ein Anfänger unterwegs war, der viel Staub aufwirbelte und mit sich selbst und seinem Durst beschäftigt war. Der Kirgise gehörte zu denen, die über den Fels gingen, als wär’s ein flauschiger Teppich, schon allein dadurch bestätigte er die Gerüchte, die über ihn kursierten.
Kaufner hatte einiges über die gehört, die durchs Gebirge streiften wie er, auch vom Gesetz der Berge, das keine Indizienbeweise kennt. Der Kirgise, angeblich war er Albino und mußte sich vor der Sonne verhüllen, angeblich war sein Gesicht entstellt und er mußte sich deshalb verhüllen, angeblich führte er noch nicht mal einen Kampfnamen, angeblich war er keiner von denen, die aus Überzeugung hierherkamen, sondern Söldner der Russen, der Chinesen, des Kalifen, angeblich war er unverwundbar, verrückt, schnitt Zeichen ins Gesicht seiner Opfer, trank ihr Blut, solange es noch warm war, angeblich direkt aus der geöffneten Ader, Januzak, der Kirgise.
Schon hatte er, immerfort pfeifend, die Hängebrücke passiert, jetzt war er wirklich nur noch wenige Meter vom Kobrafelsen entfernt. Odina drückte dem Esel mit beiden Händen die Nüstern zu. Kaufner hörte ganz von selber auf zu atmen.
Dann war der Kirgise vorbei. Auch von hinten eine überraschend schmale, ja, schmächtige Person. Beinah zierlich, man hätte ihn für eine Frau halten können. Odina lockerte seinen Griff, Kaufner atmete etwas übertrieben tief ein. Spürte prompt wieder den Staub in der Luftröhre, der Reiz wurde stärker, je heftiger er ihn unterdrückte, wurde unerträglich. Er mühte sich, wenigstens so viel wie möglich nach innen zu husten, eine Art Implosion. Aber laut genug, daß der Kirgise, er war ja gerade erst zehn oder zwanzig Schritt entfernt, auf der Stelle umkehrte und vor ihnen aufwuchs.
Odina rappelte sich empor, preßte die Handflächen aneinander, neigte den Kopf, fast berührte er mit seinem Kinn die Fingerspitzen. Dabei hatte der Kirgise nicht mal eine Waffe in der Hand.
Allerdings eine unangenehm hohe Stimme, als er das Schweigen schließlich mit ein paar scharfen Silben zerschnitt. Odina setzte, allein vom Ton seiner Ausführungen zu urteilen, setzte zu einer Rechtfertigung an, die sich wortreich um Wohlklang mühte; doch weshalb mußte er sich überhaupt entschuldigen? Eine Weile ging es zwischen den beiden hin und her, vielleicht auf Kirgisisch, dann trat Januzak auf Kaufner zu, der sich die ganze Zeit über im Abseits gehalten hatte. Trat unangenehm nah heran und fixierte ihn von unten. Von seinem Gesicht sah man kaum mehr als die zwei schwarzen Augäpfel, beständig ruckend, mit der Zeit verfestigten sie sich zu einem leblosen Blick aus schmal geschlitzten Augen, so vollkommen leer wie der eines Menschen, der allzuviel gesehen hatte, um an einem Kaufner noch Bedeutendes entdecken zu können. Kaufner schlug den Blick zu Boden.
Der Kirgise, so schmal er auch war, stand breitbeinig bebend. Nachdem er den Fremden, der ihn um Haupteslänge überragte und aussah wie einer, der für den Westen hier herumstreunte, nachdem er ihn lang genug fixiert hatte, fauchte er etwas in seiner Sprache, man verstand ihn nicht und verstand ihn allzu gut. Dann holte er sich geräuschvoll den Schleim aus dem Hals, aus der Nase, kaute ihn zurecht, zog sich den Mundschutz ruckartig nach unten – ein dünner weißer Spitzbart, zum Zopf geflochten, wurde kurz sichtbar – und spuckte ihn in die rechte Hand. Präsentierte ihn, ein glasiges Glitzern, im offnen Handteller wie ein kostbar Gut, schnaubte Kaufner einige weitere Worte zu, in klarem Befehlston nun, und als der nicht begriff, fuhr er ihm mit der Linken in den Haarschopf und riß ihn mit erschreckender Kraft nach unten, in seine Hand hinein, wo es für Kaufner dunkel wurde, naß und ekelhaft.
Jedenfalls im Rückblick. Momentan war er dermaßen verdattert, daß er sich willenlos auch wieder emporziehen ließ. Der Kirgise, sein Opfer weiterhin an den Haaren stramm fixierend, besah sich die Rechte, entdeckte darin beträchtliche Reste des Schleimbatzens, äußerte seine Empörung durch ein Bellen, das Kaufner mühelos verstand, schon führte er dessen Kopf erneut nach unten, ganz langsam diesmal, damit Kaufner Gelegenheit zum Nachdenken bekam. Und erst nach einer Sekunde Pause, die er ihm in unmittelbarer Nähe der Handfläche gönnte, ließ er ihn wieder in der Rechten verschwinden, drehte seinen Kopf ein paar Mal nach links und nach rechts, ließ ihm Zeit.
Kaufner durfte froh sein, daß ihn der Kirgise nicht solcherart ersticken wollte; als er ihn diesmal aus seiner Spucke entlassen und nach oben gezogen hatte, preßte Kaufner zwar Augen und Lippen zusammen, hatte den Schleim aber artig geschluckt. Januzak grunzte auf, ließ sofort los.
In tiefer Schande stand Kaufner, Augen und Mund weiterhin geschlossen. Stand in sprachloses Entsetzen gekleidet da, ansonsten völlig nackt, so fühlte es sich an. Hörte, wie der Kirgise einige abschließende Ermahnungen an Odina richtete und sich davonmachte; erst als ihn der Junge sanft rüttelte, schlug er die Augen auf. Sah Januzak hinterher, der pfeifend seiner Wege ging, als wär’ nichts gewesen, gar nichts. Mit jedem Schritt seines Peinigers verwandelte sich die Demütigung in tiefen – noch tieferen – tiefsten Haß. Den Rest des Tages würde Kaufner damit beschäftigt sein, sich den Mund zu spülen, die Lippen zu wischen. Obwohl er natürlich wußte, daß er sich von seinem Makel so nicht würde reinwaschen können.
Kaufner, hartgesotten als Paßgänger der Gebirgsjäger, nicht zimperlich dann auch als Botengänger der Freien Festen: hier und heute, vier-, fünftausend Kilometer und eineinhalb Jahre von seinen Auftraggebern entfernt, hatte er zum ersten Mal derb einstecken müssen. Hatte es ihm sein Führungsoffizier nicht vorausgesagt? Kaufner, da unten werden Sie begreifen, warum wir trotzdem untergehen. Wenn Sie ihre Grenzen nicht überschreiten, sind Sie der Falsche für uns, dann kommen Sie nie wieder runter von diesen Bergen. Oh, Kaufner war der Richtige, sie würden noch Augen machen. Erst recht, wenn er dann nebenbei auch – Kaufners Entschluß stand fest, ehe er ihn klaren Kopfes denken konnte –, erst recht, wenn er den Kirgisen so lange durch die Berge gejagt haben würde, bis er Rache an ihm genommen und sich von seinem Makel reingewaschen hatte.
Im Moment, da er sich nun endlich regte und kräftig ausspuckte, stand er freilich nach wie vor am Kobrafelsen, Odina schüttelte ihn:
„Du warst bereits tot, Herr, hundert Prozent tot! Er hat dich nur aus Gnade noch mal ins Leben entkommen lassen.“
„Tot?“ würgte Kaufner, wollte sich übergeben, spuckte aber bloß ein weiteres Mal aus.
„Er hat dich verschont, du warst ihm den Griff nicht wert, mit dem er dich hätte erdrosseln können. Du trägst das Mal noch nicht.“
„Welches Mal?“
„Das Mal derer …“, Odina tat so, als suche er nach passenden Vokabeln, offensichtlich wollte er darüber nichts Genaueres sagen: „Januzak weiß, daß du dasselbe suchst wie er. Aber er hat dir auch angesehen, daß du nichts –, daß du ein Anfänger bist.“
„Er sucht dasselbe?“ schluckte Kaufner den Rest an Ekel herunter: „Woher weißt du überhaupt, was wir, ich meine, was ich, was er –“
„Jeder weiß es, Herr. Ihr sucht alle dasselbe.“
*
Und wieder die Hängebrücke, diesmal scheute der Esel nicht. Kaufner hingegen, seit einigen Jahren nicht mehr ganz schwindelfrei, nun auch noch zwischen Zorn, Abscheu, Argwohn hin und her gerissen, auf seine Weise schon, anstelle der Bretter sah er nur Zwischenräume. Schließlich wollte er’s auf allen Vieren versuchen, doch da kam der Junge zurück und reichte ihm die Hand, zog ihn hinüber, die Welt schwankte beträchtlich.
Bis zum Einbruch der Dämmerung ging Odina mit dem Esel vor ihm her, wie immer weit schneller, als es für Kaufner zuträglich, dessen aktive Teilnahme an Kletter-, Durchschlage- und sonstigen Geländeübungen Jahrzehnte hinter ihm lag. Er begann, seinen Haß Schritt für Schritt auf Odina zu richten, ja, bald schien’s ihm, daß der Junge an allem, was vorgefallen, die Schuld trug. Hatte er ihn nicht permanent in die Irre geführt, wo’s anscheinend erst hier, im Turkestanrücken, richtig zur Sache ging? Oder warum sonst wäre der Kirgise überhaupt aufgetaucht, einer der berühmtesten, der berüchtigtsten unter den Paßgängern, so einer wußte doch am ehesten, wo zu finden war, was … angeblich alle suchten. Aber nein, Odina hatte ihn ins Serafschan-, ins Hissor-, ins Fan-Gebirge geführt, über 5000 m hohe Pässe und gletscherbedeckte Gipfel, am liebsten wäre er wahrscheinlich mit Kaufner bis in den Pamir gewandert, ins Wakhantal womöglich, woher er stammte, und von dort gleich in den Hindukusch und nach Afghanistan hinüber, so weit wie möglich weg von Samarkand, ins Sichere. Odina! Einen ganzen Sommer lang, so schien es plötzlich, hatte er ihn an der Nase herumgeführt.
Und auf all seinen scheinheilig gewählten Um- und Ab- und Irrwegen war er in diesem Gang vor Kaufner hergeschlendert und -geschlappt, dem wiegenden Gang, solang es flach blieb, immer eine Spur zu langsam, als wolle er damit provozieren, und dann in plötzlichem Tempo, sobald es bergan ging, als wolle er nun erst recht provozieren. Wie Kaufner sie schon immer gehaßt hatte, die Schlappen, in denen der Junge leicht über die Geröllfelder glitt, wo er selber trotz seiner Wanderschuhe viel zu oft den Tritt verlor, abrutschte, sich um ein Haar den Knöchel verstauchte. Wie er sie heute noch haßte, Odinas nackte Hacken in diesen Schlappen! Und wie er’s auch haßte, wenn Odina beim Gehen eines seiner Lieder sang, er, der in den Bauernhäusern der Täler wie den Schäferhütten der Hochebenen ein gefeierter Sänger war, mit seinen 18 oder 19 Jahren bereits eine Berühmtheit, wenigstens im tadschikischen Teil des Gebirges. Nein, Kaufner hatte Odinas Gesang, jetzt gestand er’s sich mit Inbrunst ein, hatte ihn nie gemocht, die monoton hin und her schwingenden, sich endlos wiederholenden Melodien. Und erst recht nicht, wenn sie plötzlich abrissen und Odina umdrehte, um seinem Herrn – wie er ihn trotz aller Ermahnungen nannte – an einer schwierigen Stelle im Fels die Hand entgegenzustrecken: Alles in Ordnung, Herr? Eines Tages würde er ihn abknallen, während er da so scheinheilig vor ihm herging, ohne Vorankündigung würde er ihn einfach übern Haufen schießen, nicht mal einen Grund würde er ihm zuvor nennen, er hatte’s nicht anders verdient.
Was hast du da gerade gedacht? Meinst du nicht vielmehr den Kirgisen? Ohne den Jungen wärst du in diesen Bergen schon ein paar Mal gestorben. Er hat alle Freundschaft verdient, die du geben kannst, reiß dich zusammen.
Dennoch beobachtete ihn Kaufner voll Mißmut und Mißtrauen, wie er, weit voraus, an einem verkohlten Baum innehielt, sich verneigte, wieder aufrichtete, wie er seine Unterarme anwinkelte und die Handteller zum Himmel hin öffnete, in dieser Stellung verharrte. Der Pfad hatte sich nach einer Weile fast rechtwinklig von der Schlucht abgewandt, in beträchtlicher Höhe bereits, und dann am unteren Rand eines Geröllfelds entlanggeführt. Nun stand da, allein auf weiter Flur, ein vom Blitz gespaltener Baum. In seinen schwarz schillernden Ästen hingen ein paar Stoffetzen; die wenigen, die diesen Weg gingen, ließen ihre Sorgen und Wünsche anscheinend auch hier, am magischen Ort, zurück. Kaufner schloß zu Odina auf, sah ihn wie einen Verräter scheel an, schwieg. Odina strich sich mit beiden Händen langsam der Länge nach übers Gesicht, damit war das Gebet beendet, und blickte übers Geröllfeld, das in trostloser Endlosigkeit rechter Hand hangaufwärts führte. Als ob es dort etwas zu entdecken gegeben hätte. Selbst der Esel stand ratlos. Nachdem der Junge die verbliebene Hälfte seines Taschentuchs an einen Zweig geknotet hatte, kein Wort mit seinem Herrn wechselnd, er schien die Feindseligkeit zu bemerken, die mit einem Mal zwischen ihnen lag, nachdem der Junge den Esel mit einem kurzen „A-chrrr“ angeherrscht hatte, ging es weiter.
Und sogleich, im gewohnten Abstand hinterherfolgend, gab sich Kaufner wieder seinen wüst hin und her schießenden Spekulationen hin, zunächst über Januzak und wie er ihn zur Strecke bringen würde. Dann über Odina, als ob er durch den heutigen Zwischenfall in völlig anderes Licht geraten, als ob alles, was Kaufner je mit ihm erlebt, neu zu überdenken wäre.
„Führ mich zu den Gräbern“, hatte er ihm gesagt, da sie sich am vereinbarten Tag getroffen, mehr nicht.
„Zu allen, Herr?“
Welch eine merkwürdige Replik. Warum hatte Odina denn nicht gefragt, zu welchen? Zum ersten Mal seit seiner Ankunft war Kaufner dermaßen direkt geworden, nunja, es war ihm herausgerutscht, in Zukunft würde er vorsichtiger sein. An der ausweichenden Nachfrage des Jungen hatte er sofort gespürt, daß er ein stillschweigendes Tabu gebrochen. Immerhin hatte er, auch das fiel ihm nun wieder ein, immerhin hatte er einen Teil seines forsch erteilten Auftrags schnell zurückgenommen:
„Zu allen, die du für wichtig hältst“, das war doch sicher in Odinas Sinn gewesen, „wo immer sie liegen mögen.“
Der Junge hatte gelächelt, genickt. Erst jetzt, Monate später, begriff Kaufner die Szene, begriff sie in ihrer ganzen Abgründigkeit. Ohne weitere Worte zu wechseln, waren sie losgezogen, an Gräbern hatte es im Gebirge nicht gemangelt. In keinem der Gebirge, die sie durchstreift. Natürlich hatte Kaufner nie mit dem Jungen darüber gesprochen, welches Grab er suchte und warum. Hatte mit niemandem darüber gesprochen. Trotzdem mußte der Junge geahnt haben, ach was, er hatte ganz genau gewußt, um welches Grab es Kaufner ging. Und gerade deshalb alles darangesetzt, nicht hierher, in den Turkestanrücken zu geraten, wo es höchstwahrscheinlich lag. Vielleicht war auch ihm der Weg dorthin verboten, wer weiß, sonst hätte Januzak sicher anders reagiert. Dies Grab war ja wohl das bestgehütete Versteck in der gesamten islamischen Welt, wenn man den Informationen von Kaufners Führungsoffizier Glauben schenken durfte. Die letzten Hoffnungen des Westens hingen daran, es zu finden. Wahrscheinlich war der Kirgise gar kein Paßgänger, sondern, im Gegenteil, gehörte zu denjenigen, die das Grab bewachten?
Ruhig, Kaufner, ruhig. Und eins nach dem andern.
Odina mochte vielleicht ahnen, was Kaufner suchte. Aber warum er es tat und was er zu tun gedachte, sobald er es gefunden, das konnte der Junge nicht wissen. Oder doch? Was wußte so einer überhaupt? Ein dahergelaufener Tadschikenjunge aus dem Pamir, der jede Arbeit annahm, um seine Familie zu ernähren. Ein verläßlicher Gefährte, gewiß, selbst im Blankeis und mitten im Fluß. Das mußte man ihm lassen. Einer, der besser Russisch konnte als Kaufner, obwohl der’s in der Schule gelernt hatte und der Junge sicher nicht. Mußte man ihm gleichfalls lassen. Und dann hatte er auch noch diesen Blick, diesen Odina-Blick mit großen braunen Augen, dem man nichts Böses zutrauen konnte. Bis heute. Nicht mal sein eignes Geburtsjahr wußte er, was wollte so einer schon wissen? Wie einfältig er im Hamam gestanden und sich gedehnt hatte, im … Wann genau war das gewesen?
*
Irgendwann während der Neujahrsnacht 26/27 war es auch im Hamburger Schanzenviertel richtig losgegangen. Zunächst mit ein paar Mitternachtsraketen der Mutigsten, die es gewagt hatten, die Ausgangssperre zu mißachten. Bald mit den Schwarzvermummten, die von überall her zusammengeströmt waren, mit Sprechchören und aufmarschierenden Polizeibataillons, eine Weile hätte man es fast für eine Demonstration halten können, wie man sie noch von den Anfangstagen des Krieges kannte. Kaufner hatte von seinem Balkon aus zusehen können, wie da und dort auf der Straße Feuer entfacht und Bier getrunken wurde, als handele es sich lediglich um ein ungenehmigtes Straßenfest, wie dann aber immer öfter mit Flaschen geworfen und die Polizei verhöhnt wurde. Gegen Morgen hatten die Schwarzvermummten plötzlich das Feuer eröffnet. Und gleich mit schweren Waffen, hatten mit Panzerfäusten der Reihe nach die Mannschaftswagen der Polizei in die Luft gejagt, wie’s normale Demonstranten nie vermocht hätten. Tagelang hatte Kaufner seine Wohnung nicht mehr verlassen können, bis Straßenzug um Straßenzug von der Obrigkeit zurückerobert worden. Als schließlich das gesamte Schanzenviertel in Flammen gestanden und auch er zwangsevakuiert worden war, da, ja, da erst hatte er sich endgültig entschlossen. Und schon im April desselben Jahres, ja, im April ’27 bist du hier angekommen. Den ersten Sommer über hast du geglaubt, du würdest es ohne schaffen. Ging aber nicht ohne. Im Winter hast du dann jemanden gesucht, der mit dir geht, und im Januar, war’s im Januar? Ja, kommt hin, vor einem Dreivierteljahr.
Da war Odina also erst 17 oder 18 gewesen, ein Knabe. Wie ein Strichjunge stand er unter all den andern, nackt, und machte seine Dehnübungen, so arglos, daß es geradezu ekelhaft war. Wenn Talib nicht seine Massage unterbrochen, wenn er nicht zu Kaufner gekommen und gemeint hätte, der sei genau der Richtige für ihn, nach so einem hätte er sich doch erkundigt, Kaufner hätte den Jungen niemals angesprochen. Und dann servierte Talib auch gleich noch Tee, ein vierschrötiger Riese, permanent verkatert und entsprechend wortkarg, heute hingegen redselig wie kein zweiter. Schon saß Kaufner mit ihm und dem Jungen in einer Nische, es war schummrig wie immer, dampfte und pladderte wie immer. Trotzdem war alles anders als sonst. Und das nur der Gesellschaft eines Tadschikenjungen wegen, der sich gerade mal halbherzig mit seinem Handtuch bedeckt. Hatten die anderen nicht zu ihnen gestarrt, gegrinst gar? Ob Talib vielleicht mit ihnen unter einer Decke steckte?
Zumindest mit Odina, im Rückblick war sich Kaufner jetzt fast sicher. Talib war’s ja auch gewesen, der permanent für den Jungen geredet hatte. Gut, als ehemaliger Ringer hatte er hier sowieso das Sagen, fast jeden hatte er bereits in der Mangel gehabt, 10.000 Som pro Massage, danach war man froh, überlebt zu haben. Einem wie Talib würde keiner widersprechen. In Kaufners Erinnerung nahm er die Züge des Kirgisen an oder vielmehr umgekehrt, schließlich hatten beide die gleichen schwarzen Schlitzaugen. Seltsamerweise war Kaufner damals nur die Peinlichkeit der Szene klar gewesen, nicht im entferntesten die Durchtriebenheit, mit der sich Talib darauf beschränkte, die Schönheit der umliegenden Gebirge zu rühmen und daß man als Fremder selbstredend einen erfahrenen Bergführer brauche, um nicht an diesem oder jenem berühmten Felsen vorbeizulaufen. Mit wachsender Unlust erinnerte er sich, wie ihm Talib, immer mal wieder sein nasses Handtuch auf den Betonsockel klatschend, die Vorzüge des Jungen gerühmt. Und auch geradewegs die Summe genannt hatte, die für einen ganzen Sommer in Odinas Begleitung zu zahlen war – woher wollte er die wissen, wenn er derartige Vermittlungsgespräche nicht öfter geführt hatte? Das Bakschisch für ihn selber kam dann noch obendrauf, und an Feilschen war bei ihm nicht zu denken.
Hatte der eine oder andre der Männer nicht verstohlen gelacht? Schon im Judenviertel von Samarkand hatte sich Kaufner verraten, als er sich mit aller Diskretion nach einem erkundigt, der mit ihm in die Berge gehen könne; und obendrein zum Gespött gemacht, als ihm einer gefunden, unter der nackten Glühlampe einer Nebennische, am Männerbadetag im Januar.
Nur merkwürdig, daß ihm darüber erst nach einem Dreivierteljahr ein Licht aufging.
„Er wird dir alles zeigen“, hatte Talib mit einem Funkeln in den Augen versprochen, das Kaufner am liebsten gar nicht gesehen hätte. Ein abgekartetes Spiel, warum sonst wäre Odina, den Kaufner zuvor kein einziges Mal hier gesehen, überhaupt aufgetaucht? Es reichte offenbar aus, einen Eseltreiber zu suchen, schon wußte jeder Bescheid.
Erst im Rückblick kam Kaufner jetzt auf die Idee, Talib könne für irgendwen arbeiten, vielleicht gar für die Deutschländer oder irgendeine der Freien Festen, die sich noch hielten. Immerhin war der Westen, zumindest auf dem Papier, mit Usbekistan verbündet. Möglicherweise arbeiteten sie also für dieselbe Sache, war Talib sogar daran interessiert, daß Kaufner das Grab finden würde? Wie sonst hätte er reden können, als ob er bestens im Bilde war über Kaufners Absichten, nämlich ohne sie etwa direkt an- oder gar auszusprechen? Als hätte man von Hamburg aus gleich auch Masseur und Eseltreiber vor Ort für Kaufner angeworben.
Dann holte Talib die Wodkaflasche, es wurde ernst. Kaufner hatte ihn öfter beobachtet, wenn er seine Nebengeschäfte betrieb (wiewohl man das, was er verhökerte, ansonsten nie zu Gesicht bekam), von einem glänzenden Schweißfilm bedeckt, mit seinem nassen Handtuch durch die Luft schnalzend oder auf den Bauch seines Gesprächspartners. Wer weiß, in wessen Dienste er den Jungen schon verschachert hatte und zu welchem Zweck; Kaufner saß da und hörte so gleichmütig zu, wie er’s vermochte. Auch der Junge saß vor allem da, zeigte mit keiner Miene, was er etwa von Talib dachte.
Von seiner Sorte gebe’s viele, pries ihn der Masseur, sie kämen von weither, weil sie in ihren Tälern keine Arbeit mehr fänden. Doch keiner sei unter ihnen, der Odina gleichkomme. „Er wird seinen Mund halten und im Herbst verschwinden, wenn er dich sicher wieder hier abgeliefert hat, bei mir.“
Talib beugte sich vertraulich näher, man roch, daß er dem Wässerchen bereits kräftig zugesprochen hatte, sogar sein Schweiß stank nach Alkohol: „Und im übrigen nimmt er kein Opium und ist auch nicht infiziert.“
Talibs dröhnendes Gelächter, in diesen unterirdischen Gewölben nicht ohne Effekt, der Speck auf seinen Bauchmuskeln zitterte.
„Warum sollte ich ausgerechnet dich nehmen?“ hatte Kaufner eine einzige Frage direkt an den Jungen gestellt. Und ehe sich Talib dazwischendrängen konnte, hatte der geantwortet:
Weil er vom Stamme der Wakhis sei, den Wächtern der Seidenstraße seit Jahrhunderten. „Was immer wir tun, Herr, unser Rücken bleibt dabei gerade.“
Schon wollte ihm Talib obenhin das Wort abschneiden: Nunja, Odinas Stamm habe selbst für Bewohner des Pamirs einen extrem strengen Ehrenkodex … Aber der Junge ließ sich nicht beirren und, weiterhin direkt an Kaufner gewandt, fuhr ganz ruhig fort:
„Wenn dich einer von uns in die Berge führt, bist du sein Gast. Stößt dir was zu, glaub mir, muß er’s sühnen, indem er sich das Gleiche zufügt.“
Eine bessere Lebensversicherung konnte es im Gebirge nicht geben. Womit der Handel geschlossen war.
*
Und dann hat er sich ja tatsächlich als ein erfahrner Eseltreiber erwiesen, der Junge. Als Berggänger sowieso. Nein, so einer arbeitet nicht gleichzeitig für die Gegenseite. Ein Bergführer kann kein Schlitzohr sein.
Oder doch?
Wenn er seine Familie anders nicht ernähren kann?
Für die Chinesen zumindest arbeitet er nicht. Die haßt er, die haben schon die Bergwerke in seinem Land unter Kontrolle, die Tunnel, die Hauptstraßen, die haben alles bestens vorbereitet. Für den Kalifen? Für den Wahren Weg, das Fundament oder sonst irgendwelche Kämpfer des Heiligen Kampfes? Aber der Gottesstaat interessiert die Tadschiken ja nicht. Die wollen am liebsten für jedes Tal ’nen eignen Fürsten. Für die Panslawische Allianz? Egal, der Junge weiß nicht, woher du kommst, er weiß nicht, wohin du gehst. Nie hat er nach deinen wahren Absichten gefragt.
Mehrfach mußte sich Kaufner ermahnen, sich nicht länger in die Tasche zu lügen. Schießlich war’s seit ein paar Stunden heraus, daß Odina gar nicht hätte fragen müssen, daß er auch so gewußt, welches Grab Kaufner suchte, und also direkt zum Tal, in dem nichts ist mit ihm hätte aufbrechen können. Aufbrechen müssen. Kaufner hatte zu handeln. Der Kirgise mochte ihn gedemütigt haben – im Moment war er keine unmittelbare Bedrohung mehr, Kaufner verbot sich jeden weiteren Gedanken an ihn, vorerst. Odina hingegen, er mochte ihn mit seinen Worten gerettet haben – war vielleicht eine noch größere Bedrohung als Januzak.
Und nur auf Sichtweite entfernt. Der Weg war recht einfach und blieb es. Rechter Hand erhob sich der Bergrücken, an dem sie entlanggingen, linker Hand kam immer mehr der Ebene zum Vorschein, in die sie morgen hinabsteigen würden: Usbekistan. Dicke Wolken gingen tief darüber hin, es blitzte da und dort; dicht daneben war der Himmel hellblau, das Sonnenlicht fiel in breiten Streifen herab. Wäre man besserer Stimmung gewesen, man hätte es als malerisch empfinden können.
Wie immer, wenn Kaufner am Lagerplatz eintraf, den der Junge für die Nacht bestimmt, war der Esel bereits entladen und hatte sich, nach Futter suchend, davongemacht. Der Junge war dabei, Kaufners Zelt aufzubauen; als nächstes würde er das Abendessen kochen. Erst wenn alles erledigt war, was zu seinen Pflichten gehörte, würde er neben dem Feuer die Satteldecke und darüber seinen zerschlissenen Schlafsack ausbreiten. Doch während Kaufner normalerweise erst einmal sein Gepäck ins Zelt schaffte und die Dinge für den nächsten Tag richtete, kam er heute abend direkt auf Odina zu und baute sich vor ihm auf:
„Warum hast du mich so lang in die Irre geführt?“
„Weil ich wollte, daß du weiterlebst“, kam die Antwort überraschend schnell: „Wäre ich gleich mit dir hierher gekommen –“ Der Junge hatte offensichtlich nicht den Anflug eines schlechten Gewissens. Oder er spielte seine Rolle sehr gut: „Herr, in diesem Gebirge gibt es keine Wanderer. Wer hier unterwegs ist, der ist Schmuggler oder einer vom Heiligen Kampf oder – einer von euch.“ „Aber auf keinen Fall ein Anfänger wie du! Die würden ja sofort –“
„Willst du mich beleidigen? Ich bin doch kein Anfänger!“ Kaufner verspürte große Lust, Odina eine Ohrfeige zu versetzen, besann sich allerdings: „Welches Zeichen meinst du eigentlich, an dem sich die Fortgeschrittnen erkennen oder wie ihr sie nennt?“
Odina verzurrte in aller Ruhe das Zelt, schlug einen Hering ein. Sortierte Äste und Zweige, die er am letzten Rastplatz gesammelt und in seinem Rucksack verstaut, arrangierte sie, die kleinsten davon zu einem Häufchen zusammenschiebend, über dem sich die dickeren Äste kreuzten. In wenigen Minuten würde er ein Feuer gemacht haben, darauf zunächst Tee, dann einen Topf voll Nudeln. Die Antwort auf Kaufners Frage blieb er schuldig, sagte stattdessen schließlich:
„Einem Januzak begegnet man nur einmal. Er ist alt oder jung, keiner weiß es. Aber er kann den Hals eines Menschen mit einer einzigen Hand zudrücken. Und er tut es auch.“
„Sag mal, du hast ja noch mehr Angst vor ihm gehabt als ich?“
Odinas Antwort blieb erneut aus. War’s nur sein Stolz, der ihm verbot, zuzugeben, daß er am Kobrafelsen gezittert hatte? Seine Angst konnte nicht gespielt gewesen sein, mit Januzak steckte er gewiß nicht unter einer Decke.
„Das Gesetz der Berge …“, hob der Junge schließlich gereizt an, indem er ein Streichholz entfachte, „es hätte unser letzter Tag sein können.“
„Unser beider?“ stichelte Kaufner, Odina sprang von seinen sorgsam angeordneten Zweigen auf, das brennende Zündholz zwischen den Fingern, sagte indes nichts. Man hörte die Berge atmen. Der Himmel war dunkelgrau, in wenigen Minuten würde’s Nacht sein.
„Ich kenne euer ‚Gesetz der Berge’“, ließ Kaufner nicht ab, Odina zu bedrängen, „was ich davon halte, weißt du. Was hat es denn zu plötzlichen Begegnungen mit Kirgisen zu sagen?“
Kaufners abschätziger Tonfall verfehlte seine Wirkung nicht, ungeachtet des brennenden Streicholzes warf sich Odina in die Brust: „Wir gehen mit unserm Herrn, und wenn wir ihn nicht sicher durchs Gebirge bringen, gehen wir mit ihm auch in den Tod. So will es das Gesetz.“
„Das verlangt es tatsächlich?“ Einen Atemzug lang war Kaufner verblüfft. Im nächsten fragte er sich, ob Odina vielleicht ein wenig verrückt war. Wie laut er auf ihn einredete! Während er gestikulierte, verlöschte das Zündholz, er hatte sich gewiß die Finger verbrannt:
„Herr, ich bin aus dem Pamir! Wir haben viel höhere Gebirge als hier, unsere Ehre gilt uns viel mehr als unser Leben. Aber das versteht ihr nicht.“
Mit „ihr“ meinte er „ihr aus dem Westen“, soviel war im Verlauf der gemeinsamen Wanderungen klargeworden, wobei der Westen für Odina schon in Samarkand begann, eine verweichlichte Stadt in seinen Augen mit verweichlichten Bewohnern, Schergen wechselnder Herren, unzuverlässig, verächtlich.
„Sieh mal einer an, das verstehen wir nicht“, Kaufner verschränkte die Arme vor der Brust: „Du willst mir also sagen: Wenn mich Januzak getötet hätte, hätte er danach auch dich –?“
„Nein, das hätte er nicht, er kennt das Gesetz.“ Odina zögerte, tat so, als fände er keinen passenden Begriff auf Russisch.
„Du hättest es selber tun müssen?“ gab sich Kaufner mit einem Mal verständnisvoll, um das Lauernde in seiner Frage zu überspielen: „Das Gesetz der Berge?“
„Und keiner von uns, der es jemals mißachtet hätte.“
Jetzt erst besann sich Odina des Zündholzes, warf es verärgert zu Boden. Ohne einen Blick auf seine Finger zu werfen, wandte er sich dem zu, was es vor Einbruch der Dunkelheit zu erledigen gab. Während des Essens richtete er überraschenderweise noch einmal das Wort an Kaufner, lenkte dessen Augenmerk nach Westen, in die Ebene, die sich zwischen den Ausläufern des Turkestangebirges auftat:
Was am Horizont so leuchte, sei Samarkand. Der Abglanz von Samarkand. Wenn man sich beeile, werde man die Stadtgrenzen morgen nacht erreichen; sofern man erst mal „unten“ sei, ließe sich ja auch im Dunkeln weitergehen. Im übrigen: Die Grenze liege längst hinter ihnen. Der restliche Weg ein Kinderspiel. Im Grunde könne man die Augen schließen, man finde ganz von selber hinab, alle Wege führten nach Samarkand.
Es sollte eine ganze Nacht dauern, bis Kaufner begriffen hatte, warum Odina das überhaupt noch gesagt hatte.
*
Alle Wege führen nach Samarkand, so ähnlich hatte es Kaufner schon gehört, als er vor eineinhalb Jahren in Taschkent angekommen war. „Deutsch?“ hatte ihn der Fahrer des Sammeltaxis vor dem Flughafen gezielt angesprochen. Um dann, kaum waren sie auf der Autobahn, hartnäckig Neuigkeiten von der Westfront zu erfragen, wie er sie nannte, ob es Deutschland überhaupt noch gebe? Nun, das sollte ein Witz sein, immerhin kämpften die Deutschländer weiterhin an sämtlichen Frontabschnitten, der Taxifahrer war vom usbekischen Staatsfernsehen bestens informiert. Genau genommen wollte er seine Einschätzung der Lage selber geben, angetrieben durch immer neue rhetorische Fragen an seinen deutschen Fahrgast. Die drei Männer auf der Rückbank waren damit beschäftigt, Taschen und Tüten festzuhalten, die nicht mehr in den Kofferraum gepaßt hatten. Einmal überholten sie einen galoppierenden Reiter, ein andermal kam ihnen ein Moskwitsch als Geisterfahrer entgegen: Dort, wo ansonsten die Rückbank war, war ein Kalb, es streckte den Kopf aus dem Seitenfenster heraus.
Der Fahrer konzentrierte sich darauf, den Freien Westen zu verhöhnen. Nämlich das, was davon in Mitteleuropa übrig war, genau genommen waren’s ja nur noch die Deutschländer, die ihn mit einer Inbrunst verteidigten, als hätten sie ihn selber aufgebaut oder zumindest schon immer dort gelebt. Deutschländer! Keine Rede mehr von ausländischen Mitbürgern, Einwanderern der vierten oder fünften Generation; seitdem der Krieg offen ausgebrochen, waren die Türken und mit ihnen gleich alle anderen, woher immer sie gekommen waren und obwohl sie sich ursprünglich gar nicht als Deutschländer bezeichnet hatten, endgültig zu den besseren Deutschen geworden. Zu Deutschen nämlich, die Deutschland zu verteidigen überhaupt noch für notwendig befanden und dazu auch in der Lage waren. Gerade in diesen Wochen wieder, da der Freie Westen an sämtlichen Abschnitten der Front, eine Art Frühjahrsoffensive, von der Panslawischen Allianz unter Feuer genommen worden. Überall dort, wo bloß die bunt zusammengewürfelten Truppen der Bundeswehr lagen, hatte es Durchbrüche gegeben; die Deutschländer hingegen, obwohl Milizenverbände, hatten sogar den russischen Eliteeinheiten standgehalten, widerwillig zollte ihnen der Taxifahrer Respekt. Er unterbrach seine Darlegungen nur, wenn er sich einer der Straßensperren näherte. Kaum war der Kontrollpunkt passiert, streifte er den Gurt wieder ab, gab Gas und wollte wissen, ob’s wahr sei, daß die deutsche Regierung …
Es war wahr, Kaufner konnte es bestätigen. Vor wenigen Tagen hatte sie offiziell Hilfe von der Türkei angefordert, es war lediglich eine Frage der Zeit, bis reguläre türkische Truppen einmarschieren würden. Zum Wohle Deutschlands, versicherte Kaufner, höchstoffiziell herbeigerufen von Bundeskanzler Yalçin.
Ob die Türken auch gegen ihre Glaubensbrüder in Stellung gehen würden, die in Frankreich vorrückten? Der Taxifahrer traute es ihnen zu, traute ihnen alles zu. Der Faust Gottes allerdings nicht minder, angeblich war Paris bereits gefallen, der Kalif habe Europa von der iberischen Halbinsel bis zur Seine befreit. Befreit! Der Taxifahrer machte kein Hehl daraus, daß ihm das gefiel, er war Usbeke, also kein Freund der Türken: Die hätten sich seit eh und je als Herrenrasse aufgeführt unter den Turkvölkern, keiner diesseits der Roten Wüste wolle mit ihnen gemeine Sache machen.
Paris gefallen? Kaufner schreckte möglichst unauffällig zusammen, das hatte man in der Tagesschau so nicht gemeldet. Sicher?
Sicher! Der Taxifahrer beteuerte, Gott sei groß, er zeigte auf seine Gebetskette, die am Rückspiegel baumelte, und gab weiterhin Vollgas, vielleicht sein höchstpersönlicher Beitrag, auf daß man einem sicheren Sieg entgegenfuhr.
Es wurde immer komplizierter. Bald würde man gar nicht mehr wissen, wer genau wo gegen wen kämpfte. Weil ihn der Taxifahrer in seiner Siegessicherheit ärgerte – was bildete er sich ein, Usbekistan war doch mit dem Westen verbündet! Und nicht etwa mit dem Kalifen! –, eröffnete ihm Kaufner, daß der Angriff der Russen mittlerweile an allen Abschnitten der Front zurückgeschlagen und auch in Hamburg wieder die alte Demarkationslinie an der Alster erreicht worden. Das nämlich war der letzte Stand der Kriegshandlungen gewesen, bevor er sich in sein neues Einsatzgebiet abgesetzt hatte. Der Taxifahrer hielt zum ersten Mal den Mund, offensichtlich hatte man die Nachricht hier gar nicht gebracht. Er schüttete sich aus einem Tütchen grünes Pulver unter die Zunge und war fortan beschäftigt, es genußvoll einzuspeicheln. Erst als die letzte Straßensperre am Stadtrand von Samarkand nahte, öffnete er, noch bei voller Fahrt, die Tür spaltbreit, und spuckte mehrfach aus.
Kaufner lag im Schlafsack und fühlte, wie die Kälte der Nacht durch die Zeltplane hereinkam. Bis zum Morgengrauen hatte er Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen, seine Erinnerungen neu zu sortieren. Am nächsten Morgen würde er einige Entschlüsse gefaßt haben müssen. Was Odina betraf, was die eigene Mission in den Bergen betraf und ob er sie überhaupt fortführen konnte. Wenn der Junge die ganze Zeit gegen ihn gearbeitet hatte, indem er für ihn zu arbeiten vorgab, vielleicht hatten es andere, mit denen es Kaufner seit seiner Ankunft zu tun bekommen, ebenso gehalten?
Nach ein paar Stunden Fahrt war er am Rande der Altstadt von Samarkand gestanden, nach einem kurzen Fußmarsch auch schon mitten darin, vor dem prachtvoll mit Schnitzerei versehenen Flügeltor eines Gebäudes, das ihm als Kontaktadresse genannt worden. Seltsam, ausgerechnet hierher hatte man ihn geschickt, in ein von reichen Russen, Arabern, Chinesen, Pakistanern gut besuchtes Bed & Breakfast namens Atlas Guesthouse. Der besseren Tarnung halber? Dann aber stellte sich heraus, daß es von einer tadschikischen Familie geführt wurde, im Herzen einer usbekischen Stadt! Wenn das nicht von Bedeutung war – Tadschikistan sympathisierte ja mit Großrußland. Die Tadschiken in Usbekistan hingegen offensichtlich mit dem Westen. Anscheinend waren sie hier, was die Usbeken in Tadschikistan waren, eine kleine feine Oberschicht, denen es sichtlich besser ging als der restlichen Bevölkerung.
Natürlich war es Shochi gewesen, die ihm einen der Türflügel aufgestemmt und ihn dann mit einem kaum gehauchten „Allah …“ in Empfang genommen hatte. Von Kopf bis Fuß war sie in verschieden gelbstichige, weiße, sandfarbene Tücher eingewickelt:
„Ich hab’ von Ihnen geträumt. Deshalb weiß ich ja, daß Sie heute kommen. Sie sind spät dran.“
Kaufner verschlug’s die Sprache. Er hatte sich einige Monate auf seinen Einsatz vorbereitet; von einem jungen Mädchen erwartet zu werden, wäre ihm aber im Traum nicht eingefallen.
Warum er so spät dran sei, insistierte Shochi, er hätte doch vor Stunden eintreffen müssen. Nun habe sie’s endlich gespürt, daß er angekommen, gerade habe sie ihm entgegengehen wollen.
Dies alles auf Russisch, sehr schnell, sehr ungeduldig, selbstbewußt.
„War ich denn für heute angekündigt?“
Kaufner war noch immer völlig überrumpelt. Er versuchte abzuschätzen, ob seine kleine Empfangsdame, vielleicht die Tochter des Hauses, etwa von ihrem Vater eingeweiht worden und also auf die Parole wartete. Man sah von ihr nur die Augen, ein strahlendes Blau, schwer zu durchdringen, ja, unmöglich, ihnen bis auf den Grund zu schauen.
„Wo steckt denn …“ wollte er sie loswerden, doch Shochi ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen:
Sie sei schon dreizehn, er könne auch mit ihr über alles reden, sie wisse Bescheid.
Nein, ihr Vater hatte nicht mit ihr gesprochen. Was der überhaupt wußte, es war auch später nie aus ihm herauszukriegen gewesen. Shochi hatte geträumt, mehrfach geträumt, daß Kaufner an diesem Tag kommen würde, jedenfalls behauptete sie es. Allerdings hatte sie den Traum für sich behalten, Kaufner dürfe niemandem davon erzählen, sonst … sonst gebe es wieder Ärger.
Kaufner wollte verschwörerhaft nicken und die Sache damit abtun. Als sie sich aber danach erkundigte, ob die drei Männer auf der Rückbank des Taxis „wirklich nett“ gewesen seien, starrte er sie für einen Moment fassungslos an. War’s denn möglich, selbst solche Details zu träumen? Sein erster Tag im neuen Einsatzgebiet, und ein junges Mädchen brachte ihn bereits aus dem Konzept. Nichtsdestoweniger stand er unter Zugzwang. Er mußte sich seinen Kontaktleuten zu erkennen geben, sonst würden sie ihn für einen Touristen halten. Kaufner entschied sich, die Parole beiläufig in seine Worte einfließen zu lassen, man würde ja sehen, ob Shochi sie erkannte und mit der richtigen Replik darauf reagierte:
Nun gut, vielleicht habe er sich verspätet, als Deutscher könne er ja nicht über Moskau fliegen. „Aber zum Glück führen fast alle Wege nach … Samarkand.“
Shochi mußte die winzige Pause in seinen Worten bemerkt haben, sie zögerte mit einer Antwort. Dann entschied sie sich, den neuen Gast zu ihrem Vater zu führen, damit ihm offiziell ein Empfang bereitet und der Paß abgenommen werden konnte. Federnden Schrittes ging sie vor ihm durch den Hof, eine schwankend schwebende Tuchsäule, unter einem blühenden Baum hindurch und vorbei an Dutzenden von Blumentöpfen, einem leeren Springbrunnen. Bevor sie die Tür zum Büro ihres Vaters aufstieß und dabei ihre Schlappen abstreifte, blickte sie Kaufner noch einmal an:
„Samarkand ist ja schließlich nicht bloß für Touristen interessant.“
Kaufner hatte die in der Luft hängende Losung schon wieder vergessen, nun stand er da, wie vor den Kopf geschlagen. Samarkand Samarkand … Konnte Shochi etwa auch die Parole geträumt haben? (…)
Pressestimmen
„sicherlich eines der besten deutschen Bücher der vergangenen zehn Jahre“
(Frank Pommer, Die Rheinpfalz, 4/3/20)
„Mit Kaufner taucht der Leser in eine Lebenswelt ein, die der Autor aus eigenen Reisen kennt und deren Menschenschlag und Kultur er eindringlich beschreibt. Ein Buch, düster und geheimnisvoll wie die Berge, in denen die Hauptfigur sich zu verlieren droht.“
(Walter Brunhuber, Buchprofile, April 2014)
„verdammt atmosphärisch und einfach wunderbar geschrieben“
(Kristian Thees, Der gar nicht böse Lesezirkel/SWR3, 28/3/14)
„eine faszinierend düstere Dystopie (…), mit narrativer Rasanz erzählt“
(Walter Buckl, Donau-Kurier, 27/3/14)
„In ‚Samarkand Samarkand‘ entfaltet sie [die Faszination für die Welt hinter den bekannten Horizonten] eine exotische Spannung, deren Knistern bis in die Sprache hinein zu spüren ist. […] Detailscharf zeichnet der Roman eine Welt, die im Schein der präzisen Beschreibung irreal wird. Es geht ums Ganze, doch worin besteht dieses Ganze? Die Vorstellung einer möglichen Zukunft evoziert ein komplexes Gewirr von Ahnungen und Ängsten, die für Politycki eine zentrale Frage aufwerfen. Wie bewahren wir das aufgeklärte Fundament der europäischen Kultur? Darum geht es in diesem Buch, nicht um Leitkultur und Nostalgie.“
(Beat Mazenauer, http://www.literaturkritik.de, 26/2/14)
„ein dicht gewebter Text, in dem die Grenzen zwischen (fingierter) Wirklichkeit und (wirklichem) Mythos aufgehoben sind und die Prosa der Verhältnisse und die Poesie des Herzens mächtig durcheinanderwirbeln“
(Werner Jung, Junge Welt, 12/2/14)
„Es ist ein verstörendes Szenario, weil es, von heutigen Gegebenheiten ausgehend, denkbar scheint. Politycki zeichnet ein opulentes Landschafts- und Sittengemälde. (…) Aber „Samarkand Samarkand„ ist weit mehr als ein guter Abenteuerroman. Es ist ein Roman, der sich im Kern um die Gültigkeit von Werten dreht.“
(draußen!, Februar 2014)
„Eine Mischung aus Fantasy und Politikroman mit vielen Bezügen zur Gegenwart, Geschichte, zum wilden Bergleben an der Seidenstraße und mit einer anrührenden Liebesgeschichte.“
(Rüdiger Sareika, Der evangelische Buchberater, 1/2014)
„Im Mittelpunkt steht der Schauplatz. Um ihn kreist der Text.“
(Michael Stadler, Salzburger Nachrichten, 30/1/14)
„Matthias Politycki, einer der bekanntesten deutschen Schriftsteller der Gegenwart, bewährt sich einmal mehr als Erzähler und als politisch-philosophischer Analytiker.“
(Felix Schneider, 52 beste Bücher/Schweizer Radio und Fernsehen SRF 2 Kultur, 19. u. 25.1.2014)
„Ein Buch, düster und geheimnisvoll wie die Berge, in denen die Hauptfigur sich zu verlieren droht.“
(Walter Brunhuber, Borromäusverein, 2013, Zur Rezension)
„ein Abenteuerroman, an dem womöglich auch Karl May seine Freude gehabt hätte“
(Rosemarie Tuchelt, Doppelkopf/hr-2, 30/12/13)
„Ein praller Abenteuerroman aus der gewaltigen Bergwelt Zentralasiens“
(Johannes Preßl, bn Bibliotheksnachrichten, 4/2013)
„Matthias Politycki hat einen grandiosen Abenteuerroman vorgelegt mit Naturbeschreibungen, die ihresgleichen suchen. Er ist buchstäblich bis zur letzten Zeile spannend, dazu (…) entwirft er eine (…) Zukunft, die, so überraschend sie möglicherweise zunächst daherkommt, glaubhaft erscheint, was vor allem an der überwältigenden Sprache liegt. Sie entwickelt einen enormen Sog und nimmt den Leser unweigerlich mit, wohin auch immer.“
(Michael G. Fritz, Dredner Neueste Nachrichten, 27/12/13)
„Der Weltreisende und große Geschichtenerzähler Matthias Politycki entwirft in seinem Roman „Samarkand Samarkand‘ eine finstere Zukunft. (…) Intensiv, wortgewaltig, provokativ und bedrückend gut.“
(Renate Pinzke, Hamburger Morgenpost, 19/12/13)
„Ein abenteuerlich politischer Zukunftsroman.“
(Helmuth Schönauer, Lesen in Tirol, 13/12/13)
„Mag es noch so abenteuerlich rätselhaft in dem Roman zugehen – nach der atemberaubenden Lektüre wissen wir entscheidend mehr, nicht nur über das Geschehen in fernen Weltgegenden, sondern auch über das Dasein überhaupt und die zahlreichen Geheimnisse unter den Schädeldecken.“
(Heinz Neidel, Nürnberger Nachrichten, 30/11/13)
„Polityckis Roman ist eine mitreißende Abenteuergeschichte, und es ist unzweifelhaft, daß sie nicht als eine Schreckensvision, sondern als eine in die nähere Zukunft verlängerte Darstellung der Gegenwart gedacht ist. Die Konflikte, die uns umtreiben, hat Politycki verdichtet und weitergedichtet.“
(Christoph Schröder, Buchjournal 6/2013)
„Aus der atmosphärischen Dichte des Textes spricht die selbst erlebte Realität.“
(Heiko Rehmann, Reutlinger General-Anzeiger, 28/11/13)
„Dieses Buch ist: ein Abenteuerroman, ein Reiseroman, ein Politkrimi, ein Zukunfts- und Kriegsszenarium, eine große märchen- und sagenumwobene Gegenwartserzählung.“
(Sabine Neubert, Neues Deutschland, 23/11/13)
„Das Gebirgigste, Steinigste, Wildeste, Kühnste und Gefährlichste, was es an deutscher Romanliteratur derzeit zu lesen gibt“
(Hajo Steinert, Büchermarkt/Deutschlandfunk, 15/11/13)
„ein […] fulminanter Roman […], für dessen Konstruktion, Anlage und Ausführung scheinbar veraltete Begriffe hervorzuholen sind: die Pranke des Autors, der allwissende Erzähler, der Roman als Breitwandgemälde. […] [Politycki] schreibt so geschmeidig, so rhetorisch geschliffen, so wortmächtig, so atmosphärisch beschwörend wie kaum ein anderer deutschsprachiger Autor seiner Generation.“
(Alexaner Kluy, Album/DER STANDARD, 2./3.11.2013, http://derstandard.at)
„Der Titel verspricht einen Zauber, den die Geschichte vollumfänglich einlöst.“
(Anne Rüffer, Lieblingsbücher/emotion, 1/11/13)
„Ein Buch wie eine Expedition in (…) die Tiefe der menschlichen Psyche.“
(InStyle, November 2013)
„eine packende Odyssee durch fremde Welten“
(Zuhause Wohnen, Heft 11/November 2013)
„ein literarisches Spiel mit den Ängsten unserer Zeit“
(ZiB 2/ORF-Fernsehen, 31/10/13)
„etwas anderes als die üblichen ich-verliebten Romanszenarios, die uns erzählen, wie schwer es ist, jung zu sein“
(Klaus Walther, Freie Presse, 25/10/13)
„Es ist gut, daß wir in der Gegenwartsliteratur auch einen literarischen Draufgänger haben, der sich mit halben Sachen nicht abgibt. Und der vor allem eines kann: schreiben. Gut schreiben.“
(Hajo Steinert, Tagesanzeiger, 21/10/13)
„Als Beschreibung europäischer Grenzerfahrungen zwischen dem ‚Leeren Berg‘ und dem ‚Tal, in dem nichts ist‘ kann er [der Roman] es jederzeit mit ähnlichen Projekten von Michael Roes bis Christoph Ransmayr aufnehmen.“
(Martin Halter, Badische Zeitung, 19/10/13)
„Man erlebt als Leser an sich selbst die Umwertung der Werte (…) – im Verbund mit einer geradezu morgenländischen Fabulierlust“
(Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung, 15/10/13)
„ein Abenteuerroman des Geistes“
(Denis Scheck, ARD-Bühne, 12/10/13)
„Schließen Sie die Augen, sagen Sie zwei Mal ‚Samarkand Samarkand‘ beim Lesen dazwischen – so kann man diese Stille und diesen Wahnsinn des Buches wirklich genießen.“
(Ernst A. Grandits, 3sat, 11/10/13)
„In Samarkand Samarkand geht es um existenzielle Fragen. Es geht um das Leben. Ein wahrer Monolith unter all den lauwarmen Unterhaltungsromanen, die den Buchmarkt überschwemmen.“
(Carsten Heidböhmer, http://www.stern.de, 9/10/13)
„ein Abenteuerroman im besten Sinn, der (…) beweist, daß die Reisen im Kopf oft die besten sind“
(Gabie Hafner, http://www.muenchner-kirchennachrichten.de, 7/10/13)
„Die Geschichte, utopisch und abenteuerlich, bannt den Leser, zieht ihn hinein und macht jede Unterbrechung der Lektüre schwer. (…) Doch das Buch ist nicht nur Abenteuerroman und Dystopie, sondern hat viele poetische Momente.“
(Regine Krieger, Handelsblatt, 4./5./6.10.2013)
„Die Faszination für jene Welt hinter den bekannten Horizonten (…) verleiht ‚Samarkand Samarkand’ eine ganz eigene Spannung, deren Knistern bis in die Sätze hinein zu spüren ist. (…) ‚Samarkand Samarkand’ entfaltet eine suggestive Wirkung, in der alles in ein funkelndes, grelles Irrlicht getaucht wird, schwebend zwischen Himmel und Erde, zwischen Auftrag und Sinnlosigkeit. In dieser Vision einer Zukunft (…) spiegelt Matthias Politycki die existentiellen Ängste der europäischen Kultur und Zivilisation.“
(Beat Mazenauer, http://www.readme.cc, Okt. 2013)
„Solitär herausragend in diesem Herbst (…) Wer sich auf diese Reise einläßt, den erwartet garantiert kein Pauschalurlaub oder eine Studiosus-Tour, sondern eine hochspannende Expedition, von der man mit reicher Beute in unser Jammertal zurückkehrt.“
(Jens Sparschuh, Der Tagesspiegel, 29/9/13)
„Eine düstere Zukunftsvision, farbig und poetisch geschildert.“
(Neue Presse, 28/9/13)
„Politycki erzählt eine opulente Geschichte, voll mit skurrilen Figuren (…). Über die Vielseitigkeit dieses Autors kann man nur staunen.“
(Martina Sulner, Hannoversche Allgemeine Zeitung, 27/9/13)
„Das Buch entlässt den Leser mit dem Gefühl, eine utopische und doch durchaus vorstellbare Schreckensvision für die vor uns liegenden Jahrzehnte durchlebt zu haben. Die aber keine Angst macht vor dem Unbekannten, sondern auf tröstlich-entschlossene Weise Mut.“
(Christine Adam, Osnabrücker Zeitung, 17/9/13)
„eine episch breit angelegte Mischung aus Untergangs- und Abenteuerroman und eine mystisch düstere, blutige Zukunftsvision (…), in archaisch kraftvoller, lebenspraller und bilderreicher Sprache erzählt“
(Dagmar Härter, ekz-Bibliotheksservice, August 2013)
„Matthias Polityckis Roman ist keineswegs eine übertriebene Zuspitzung – dazu muss man sich lediglich Bilder aus Syrien oder dem Irak vor Augen halten. Politycki hat bloß die Zeichen der Zeit in die Zukunft übertragen.“
(Kulturzeit/3sat, 12/9/13)
„Ein beängstigendes, aber auch ein phanstastisches Szenario. Der Kampf der Kulturen wird mit dieser Fiktion real.“
(Kulturplatz/Schweizer Fernsehen 1, 11/9/13)
„ein grandioses Schreckensszenario, das bis nach Asien greift (…) – und über eine Zukunft, die vielleicht schon längst begonnen hat.“
(Annerose Kirchner, Ostthüringer Zeitung, 7/9/13)
„Was für ein aufregender Stoff!“
(Ralf Sziegoleit, Frankenpost, 6/9/13)
„Man merkt auch diesem (in mancherlei Hinsicht) starken Stück Literatur an, dass ihr Autor – wie schon für den „Herrn der Hörner“ – ausgiebig vor Ort war und die Atmosphäre, die geschichtsträchtigen Geheimnisse, die Schönheiten und die (vergangenen und möglichen künftigen) Schrecken geradezu verinnerlicht hat. Und der zudem über eine Sprache verfügt, die es vermag, diese Schönheit, aber auch die Komplexität und Zerrissenheit wiederzugeben.“
(Maike Schiller, Hamburger Abendblatt, 5/9/13)
„Dieser Roman (bietet dem) Leser keinerlei weltanschauliche Gewissheiten, stiftet eher Unruhe. Die einzige Verlässlichkeit liegt – wie immer bei Politycki – in seiner durchrhythmisierten Sprache, seiner ausgefeilten Stilistik. Hinzu tritt dieses Mal noch ein dramaturgischer Mumm, den man in der deutschen Gegenwartsliteratur sonst vergeblich sucht. Politycki wagt etwas – und gewinnt auf der ganzen Linie.“
(Hellmuth Opitz, http://fixpoetry.com, 4/9/13)
„Ja, Samarkand Samarkand ist ein Abenteuerroman, spannend, wie es sich gehört. Aber keiner, der schnell gelesen und schnell vergessen wird. Die düstere Prognose sich ausbreitender Bürgerkriege ist zu realitätsnah.“
(Gabi Rüth, Scala/WDR 5, 3/9/13)
„ein finsteres Poem, ein Abenteuerroman mit religiös-philosophischer Stimulanz (…). Matthias Politycki gewährt einen tiefen, einen geradezu magischen Blick in eine andere Zeit, in ein anderes Denken, auch ein gänzlich anderes Wertesystem. (…) Der Roman liest sich wie ein regelrechtes Menetekel.“
(Andreas Thiemann, WAZ, 3/9/13)
„Märchenhaft liest sich dieser Roman, er steckt voller Geschichten und Geheimnisse.“
(Heide Soltau, NDR Info, 3/9/13)
„Leseabenteuer!“
(Buch des Monats/Bielefelder, September 2013)
„Samarkand Samarkand ist so etwas wie ein Karl-May-Roman aus den Schluchten hinter dem Balkan (…), eine wortgewaltige, orientalisch bunte Reise- und Abenteuererzählung, die bis zum Herzen der Finsternis vordringt.“
(Martin Halter, FAZ, 23/08/13)
„Die karge, packende Wanderung (…) – ein Faszinosum“
(tz münchen, 21/8/13)
„Eine Sprache, die einen reinsaugt, und ein Thema, das einen reinsaugt: Das ist auf jeden Fall ein Buch, das man so schnell nicht mehr vergißt.“
(Julia Westlake, Bücherjournal/NDR, 21/8/13, http://www.ndr.de)
„Im Gebirge gehen (…) und ein Ziel zu verfolgen – mit dieser Schilderung ist Matthias Politycki etwas ganz Außerordentliches geglückt. Ohne Almengrün, ohne Firnglitzern, ohne Gipfelsturm, ohne Kletter-Heldentum bleibt der Autor mit höchster schriftstellerischer Tapferkeit der Kargheit der endlosen Bergrücken treu – und macht sie für seine Leser zu einem Faszinosum: Steingrau kann von orientalischer Üppigkeit sein.“
(Simone Dattenberger, Münchner Merkur, 21/8/13)
„Bei aller Konkretion und Detailfülle, mit der Politycki die Bergwelt (…), die Atmosphäre in Samarkand, die Timur-Legenden und die (…) prächtigen Bauwerke Usbekistans bedenkt, belässt er die Erlebnisse und Gedanken Kaufners gekonnt im Mehrdeutigen, Befremdenden und Unbestimmten und lässt so seine Leser die fundamentale Unsicherheit seines Protagonisten und überhaupt der Welt im Jahre 2026/7 spüren.“
(Iris Buchheim, Diwan/Bayern 2, 17/8/13)
„Die Bedrohungen, von denen die Rede ist, sind täglich Bestandteil der Nachrichten. Im Buch rücken sie näher, werden Teil des Alltags. Manchmal braucht ein Roman ein Vierteljahrhundert, bis er ausgereift ist.“
(Anton Thuswaldner, Salzburger Nachrichten, 17/8/13)
„Der neue Roman des Autors ist eine düstere Zukunftsvision, die gleichzeitig intelligente Unterhaltung bietet, den Kopf des Lesers nicht unterfordert und einiges an schwarzem Humor bereithält.“
(Bettina Ruczynski, Sächsische Zeitung, 17.8.2013)
„ein Stück magischer Realismus an der Seidenstraße. Und ein starkes Stück, nicht nur literarisch. (…) Am Ende ist Kaufner allein. Aber der Leser bleibt bei ihm.“
(Gerald Giesecke, Aspekte/ZDF, 16/8/13, http://www.zdf.de)
„ein äußerst ungewöhnlicher, sehr eigenwilliger, im besten Sinne seltsamer Roman“
(Frank Schmid, RBB-Kulturradio, 16/8/13)
„ein Abenteuerroman und eine düstere Zukunftsvision, eine Liebes- und Leidensgeschichte, politische Warnung und poetische Naturbeschreibung zugleich. Geschrieben in einem Deutsch, so schön, wie es nur wenige beherrschen gegenwärtig.“
(Jobst-Ulrich Brand, Focus 33/12.8.2013)
Videos
„Alle Geschichten kommen aus Samarkand.“
Trailer zum Buch
aspekte/ZDF, 16. 08. 2013
Wir danken aspekte/ZDF für diesen Film!
http://www.aspekte.zdf.de
© Gerald Gieseke für aspekte/ZDF
StadtLandLeute
Photos © Eric Segers, Gerald G. Giesecke, Alexander Kaufner, Shochida Khabibullaeva u. a.
Landkarten
Tamerlans Gelächter
Tamerlans Gelächter
Vorbemerkung im Leseexemplar
Als ich am 10. August 1987 zum ersten Mal in der Samarkander Altstadt stand, brodelte es dermaßen unorientalisch unbunt um mich herum, daß abseits der touristisch relevanten Bauwerke von einem Zauber der Seidenstraße nichts, gar nichts zu spüren war. Hingegen davon, daß „das alles hier“ demnächst in die Luft oder zumindest den russischen Kolonialherren gewaltig um die Ohren fliegen würde – es war die Zeit kurz vor Glasnost und Perestroika, schon 1991 sollte Usbekistan mit zahlreichen anderen Sozialistischen Sowjetrepubliken wieder seine Unabhängigkeit erlangen. Ich kann es nur mit meiner damaligen Naivität entschuldigen, daß ich die explosive Stimmung in der Stadt gewaltig überinterpretierte (eine friedliche Loslösung von Rußland nicht mal ansatzweise erwägend) und die Antizipation des Schreckens nicht anders zu fassen wußte denn als maßlos übertriebenen Gedanken: Hier wird er losgehen, der Dritte Weltkrieg.
Er tat es bekanntlich nicht. An Kriegen und kriegerisch sich zuspitzenden Krisensituationen rund um Samarkand war seither jedoch kein Mangel; und wer würde ernsthaft erwarten, daß die Region in den nächsten Jahren zur Ruhe kommen könnte? Die tatsächliche Entwicklung der Weltgeschichte zu antizipieren ist nicht das Sujet der Literatur; Konflikte zu erahnen, lang bevor sie ausbrechen, schon eher – konkrete Rahmenbedingungen spielen dabei allenfalls eine stimulierende Rolle. Die impulsive Überzeugung, daß ich in Usbekistan quasi an der Demarkationslinie zweier sich neu formierender Weltmächte stand (inzwischen sind mit der NATO und China sämtliche „Global Player“ vor Ort), setzte meine Phantasie jedenfalls gewaltig in Bewegung. Und das zu einem Zeitpunkt, da ich mich gerade fünf Jahre lang mit einem Roman herumgeschlagen hatte, in dem es um „nichts weiter“ als die Farbe der Vokale ging!
Doch auch Timur alias Tamerlan, vielleicht der größte Barbar unter den Welteroberern, von dem ich anläßlich meiner Reise zum ersten Mal mehr als den Namen vernommen hatte, beschäftigte mich ungemein: Sein gegen Ende des 14. Jahrhunderts errichtetes Reich ging nach seinem Tod rasch unter, so war es in jedem Reiseführer nachzulesen. Warum auch immer, ich nahm es wortwörtlich, zumindest was seine Hauptstadt Samarkand betraf, das damalige, das eigentliche Samarkand; in meiner Vorstellung lag es seither unter einem Berg begraben. Und er selbst, Timur, wartete darin wie in einer Art zentralasiatischem Kyffhäuser auf den Tag, da er – nicht etwa als Friedenskaiser wie Barbarossa, sondern als Kriegskaiser sein Weltreich wieder errichten würde.
Wahrscheinlich war es ebenjene Urangst vor den Mongolen, den Hunnen, den Tataren – damals wußte ich die verschiedenen „Horden“ noch nicht zu unterscheiden –, daß ich gar nicht anders konnte, als an Stoff und Thema so lange dranzubleiben, bis ich mich davon durch Niederschrift befreit haben würde. Denn obwohl dies so schnell nicht gelingen wollte, war ich mir seltsam sicher, daß es irgendwann klappen würde, klappen mußte; und so zurückhaltend ich ansonsten meine literarischen Pläne preisgab, so bereitwillig schwadronierte ich von „Samarkand Samarkand“, wenn das Gespräch auch nur einen halbwegs geeigneten Vorwand dazu lieferte. Als ob ich all die mißglückten Versuche, den Stoff zu Papier zu bringen, durch mündliches Erzählen kompensieren wollte. Oder als ob ich mich dadurch zum Durchhalten zwingen wollte, um die endgültige Niederlage nicht irgendwann ebenso öffentlich reihum einräumen zu müssen. Bald hatte ich „Samarkand Samarkand“ auch gegenüber Lektoren oder Verlegern erwähnt, ja, den einen oder anderen Verlagsvertrag darüber abgeschlossen. Und dabei Vorschüsse eingestrichen, die ich dann mit anderen Büchern abgelten mußte. Je unschreibbarer der Roman wurde, desto beredter wußte ich ihn ersatzweise zu erzählen.
Zu schreiben versuchte ich ihn gleichwohl und immer wieder. Auch im Jahr 2000, als ich mit diesem Projekt zu Hoffmann und Campe kam, war ich wild entschlossen. Damit vor der nun endgültig anstehenden Niederschrift nichts mehr dazwischenkommen konnte, das die Inspiration möglicherweise von Samarkand hätte abziehen können, beschlossen wir, meine Frau und ich, unseren Urlaub in einem Land zu machen, das mich damals noch nicht sonderlich interessierte: Kuba. Bis zum vorletzten Tag ging der Plan blendend auf, dann … mußte ich dem Verlag beichten, daß es wieder einmal nichts werden würde mit „Samarkand Samarkand“.
Am 23. Januar 2013, gut 25 Jahre nach der ersten Notiz dazu, konnte ich endlich das fertige Manuskript an den Verlag schicken. Von der Ursprungsidee erhalten hat sich auf den ersten Blick erstaunlich wenig, jedenfalls wenn man vom Stoff her denkt. Und dennoch war das, was in der jetzigen Version eher am Rande verhandelt wird, stets das treibende Motiv. Illustriert wird das recht gut durch ein Photo, das ich erst spät – ich glaube: im August 2009 –in Samarkand entdeckte, prompt die ganze Nacht nicht schlafen konnte und es tagsdrauf erwarb.
Es ist von Max Penson (1893-1959) und zeigt einen namentlich nicht überlieferten Bewohner des Sowjetreiches, den der berühmteste Photograph Usbekistans ca. 1920-40 vor die Kamera bekam. Für mich war es freilich kein anderer als Timur, der da porträtiert worden, und ist es noch heute: derjenige im Berge, der seiner Wiederauferstehung entgegenlebt und -lacht oder auch -schreit, so genau ist das auf dem Bild ja nicht zu entscheiden. Das Photo stand seither auf meinem Schreibtisch, und als ich mich zum Jahreswechsel 2011/12 ein letztes Mal hinsetzte, um den Roman zu Papier zu bringen, schrieb ich gewissermaßen die ganze Zeit darauf zu. Vielleicht ist die Sache nur deshalb geglückt, weil in dieser Photographie der „Urschrecken“ meiner ursprünglichen Phantasien zum Ausdruck gebracht war und mich mit jedem Blick, den ich während des Schreibens darauf warf … jedenfalls nicht zur Ruhe kommen ließ. Als mir der Stoff Mitte 2012 erneut über den Kopf zu wachsen drohte, setzte ich anstelle der geplanten weiteren Bücher das Photo selbst, nämlich als abschließendes „Fünftes Buch: Tamerlans Gelächter“ – zugleich Schmerzensschrei, Triumphgeheul, ausbrechender Wahnsinn. Auf diese Weise konnte ich mich damit abfinden, daß ich das meiste auch diesmal gar nicht erzählt hatte; zum Glück, wie man mir versicherte – und wenige Tage, bevor das Manuskript tatsächlich in Satz ging, auch noch das Photo abhandelte und damit das „komplette“ Fünfte Buch.
Wie überraschend schnell diese 25 Jahre dann plötzlich zu Ende waren! Und nun? Es fühlt sich etwas merkwürdig an, fast so, als hätte ich mich im Verlauf der Zeit daran gewöhnt, dies ungeschriebene Buch mit mir herumzuschleppen und nie wieder loszuwerden; und als würde ich nun, da ich den Stoff tatsächlich und endgültig loslassen muß, bereits den Phantomschmerz spüren, der mich vielleicht die nächsten 25 Jahre begleiten wird.