Mein Abschied von Deutschland

Mein Abschied von Deutschland

erschienen/erscheint bei:

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17/7/21; zum Artikel auf FAZ.net

Entstehungszeitraum: 03/04/2021 - 16/06/2021

Leseprobe

Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen so gründlich zu betreiben, bis alle schlechte Laune haben. Das war schon immer so, immer mal wieder. Trotzdem war ich mein Leben lang auf eine, heute würde man vielleicht sagen: postnationale Weise gern ein Deutscher und habe mich in Deutschland zu Hause gefühlt. In den letzten Jahren fiel mir das zunehmend schwerer. Daß ich nun Konsequenzen gezogen habe, hat nichts mit den Themen zu tun, die unser öffentliches Leben seit über einem Jahr so lähmend begleiten. Oder allenfalls insofern, als der Lockdown auch mir jede Möglichkeit nahm, mich durch kleine Fluchten vor der grassierenden Unduldsamkeit vorübergehend in Sicherheit zu wiegen.

Nun hilft nur noch die Flucht.

Natürlich ist es keine wirkliche Flucht und erst recht kein Exil. Mit schwerem Herzen gehe ich gleichwohl. Ich weiß, was ich aufgebe. Und daß ich zwar von Deutschland Abschied nehmen kann, niemals jedoch von dem Deutschen, der ich bin. Als Schriftsteller, der von der Freiheit des Gedankens und der Schönheit der Sprache als seinen täglichen Grundnahrungsmitteln lebt, sehe ich jedoch keine Möglichkeit zu bleiben, mag ich durch diesen Schritt auch als Mensch fast all meine Vertrautheiten und Geborgenheiten verlieren.

Aufgewachsen in den linksgrünen Biotopen der 70er-Jahre, in denen alles mit allen ausdiskutiert wurde, habe ich Deutschland noch in den 90ern, heimgekehrt von dieser oder jener Reise, immer als eines der liberalsten Länder erlebt, in denen man leben konnte. Seit Nine-Eleven, um es an einem plakativen Datum festzumachen, ist jedoch auch bei uns die Intoleranz auf dem Vormarsch, dies freilich im Zeichen der Toleranz. […]