Der Autor als Zeugwart

Der Autor als ZeugwartDigitale Schriftstellerei – der selbstverschuldete Ausgang des Menschen aus seiner Mündigkeit

erschienen/erscheint bei:

u.d.T. „Das Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken“ als Vortrag geh. im Colloquium Helveticum, Zürich, 5/6/02

Entstehungszeitraum: 17/04/2002 - 22/04/2002

Weitere Formate und Veröffentlichungen


gek. u.d.T. „Das Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken“ in Aargauer Zeitung, 5/6/02; Frankfurter Rundschau, 8/6/02; Wiederabdruck in: Schreiben am Netz. Hg. J Fehr/W. Grond 2003; enth. in: Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft

Leseprobe

„Sagt die eine Nutte zur andern: ‘Du, gestern hatte ich ‘nen Intellektuellen, stell dir vor, der hatte ‘nen ##Penis##.‘
‘Was ist ##das## denn?‘
‘Och, fast dasselbe, was die andern auch haben. Bloß weicher.‘“
Als ich im April 1991 eine erste Lesereise nach Polen tat, kam ich mit kaputten Stoßdämpfern und einem kleinen Haufen an Notizen zurück – das mit dem Stoßdämpfern lag an der Autobahn ab Dresden, das mit den Notizen lag an der ausgeprägten Zettelwirtschaft, die ich damals noch betrieb. Als ich im April 2002 von meiner zweiten Lesereise durch Polen zurückkam, hatte ich eine kaputte Leber und – keine einzige Notiz. Das mit der Leber lag, nunja, an den vielen selbstgebrannten Säften, die in diesem Lande so getrunken werden, das mit der notizfreien Heimkehr lag an meinem neuen iBook.
In einer Steckdose des Warschauer Flughafens nämlich war mein Netzteil steckengeblieben, und all das, was mir in den darauffolgenden Tagen für diesen Essay einfallen wollte, mußte also gleich wieder vergessen werden. Natürlich hatte ich meinen Füller dabei, natürlich hätte ich mir ohne weiteres Papier verschaffen können, allein … ich wollte schlichtweg nicht. Verstand ich den Verlust des Netzteils doch als wiederholten Versuch meines iBooks, sich seiner Verwendung zu entziehen, als Aufbegehren der Dinge im Sinne Heimito von Doderers, das ich gefälligst ernstzunehmen hatte; überdies wollte mir der Griff zum Papier irgendwie umständlich und altmodisch, um nicht zu sagen: unzeitgemäß erscheinen.
So verbrachte ich eine ganze Woche ohne Notizenmacherei, der vorläufige Höhepunkt in einer grimmig betriebnen Serie an Selbstversuchen unter dem Titel „Wie sich mein Schreibgerät wieder mal erfolgreich seiner Nutzung zu entziehen wußte“, und kehrte mit einigen deftigen polnischen Witzen und der Bestätigung meiner alten These zurück, daß das Wichtigste am Schreiben das Nichtschreiben ist, und sei‘s ein unfreiwilliges. Weil‘s den Blick freimacht, das Nichtschreiben, auf all das, was vielleicht in ferner Zukunft sogar mal zu Worten verwurstet werden könnte, zunächst jedoch zu einer heilsamen Nichtschreibneurose führt – garniert in meinem Fall mit einigen Breslauer, Oppelner und Krakauer Germanistenscherzen, die ich umso gedankenloser abnicken konnte, da sie nicht krampfhaft für meinen geplanten Essay mitzunotieren waren (…)