„Damals hörte ich die Engel singen“
„Damals hörte ich die Engel singen“Interview: Wolfgang Paterno
profil, 7/8/97.
Herr Politycki, wohin sind Sie zuletzt gereist?
Für mein neues Buch war ich in Indien unterwegs, weil ich das Reisen noch mal in seiner gesamten Bandbreite erleben wollte: Wie fühle ich mich, wenn ich ankomme, was macht das Hochgebirge mit mir, wie geht es mir in den Slums?
Haben Sie da auch den Zustand des „kleinen Zen“ erlebt, von dem Sie sagen, das ist einer der seligen Momente beim Reisen?
Ja, ich hatte Glück. Solch stille, zeitentrückte Momente kann man ja nicht erzwingen. Ich erlebe sie am ehesten, wenn ich mich tüchtig verausgabt habe. Etwas in mir schaltet dann um in einen trancehaften Modus, dann schaue ich zum Beispiel in eine Landschaft hinein, die gar nicht mal besonders schön ist, und irgendwann schaue ich durch sie hindurch. Danach bin ich erfrischt.
Eine der eindrücklichsten Erfahrungen auf Reisen, die Sie in Ihrem Buch beschreiben, ist die Wucht des Schönen. Wann waren Sie zuletzt davon überwältigt?
Bei ebenjener Indien-Reise, nämlich in Agra: Das Taj Mahal hat mich schon als Kind fasziniert, ich hatte ein Puzzle davon. Freilich wird es jeden Tag im Schnitt von 35000 Menschen besucht, an Spitzentagen von 80000, da ist von der Aura des Ortes nur noch wenig zu spüren. Nun habe ich ohnehin ein Faible für die Rückseiten von Sehenswürdigkeiten und Städten, ich fuhr also zum Müllberg von Agra, stieg zusammen mit einigen Männern hoch, die dort arbeiteten. Von oben sahen wir überm Dunst des Flusses die Kuppeln des Taj Mahal. Wir schwiegen eine Weile, aus völlig anderen Kulturen und Gesellschaftsschichten kommend, verbunden in diesem Anblick.
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