Den Klischees auf den Grund gehen

Den Klischees auf den Grund gehenGespräch mit Silvia Tyburski über die bevorstehende Schiffsschreiberschaft auf MS Europa

erschienen/erscheint bei:

gekürzt u.d.T. „Leinen los!“ in „Für Sie“ 17/2006, 8.8.06

Entstehungszeitraum: 08/06/2006

Interview (Kompletter Text)

Die Presse: Was haben Kubanerinnen, was Europäerinnen nicht haben?

MP: Ein ungebrochnes Bewußtsein ihrer Weiblichkeit. Im Zuge der Emanzipation (die im Prinzip natürlich notwendig war) ist sehr viel am natürlichen Selbstverständnis beider Geschlechter verloren gegangen. Der neue Mann, nicht zuletzt auch von emanzipierten Männern gefordert, war möglichst unmännlich, und die neue Frau wollte die Weibchenklischees nicht mehr bedienen. In Kuba, und ich würde sagen: in 90 Prozent der Welt läuft’s dessen ungeachtet wie seit Jahrhunderten: Da versuchen beide Geschlechter – selbst mit einfachsten Mitteln –, sich füreinander schön zu machen. Das Gegenteil gilt als verpönt.

Aber ist das nicht eine Gegenposition zur Emanzipationsbewegung?

MP: Nein, das glaube ich nicht; es käme auf eine Synthese von altem und neuem Rollenverständnis an. Nicht umsonst fliegen jedes Jahr Hunderttausende, Männer wie Frauen, dorthin, wo sie noch plakativ funktionierende Geschlechterrollen finden; wenn man die zugrundeliegenden Triebstrukturen qua Emanzipationsdekret auszuschalten versucht, dann rächen sie sich halt: Wir sind ja nach wie vor recht primitive Primaten mit sehr einseitigen Bedürfnissen.

Sie sind also gegen die Einebnung der Geschlechterrollen?

MP: Absolut! Ich bin für starke Frauen, emanzipierte Frauen, die mit Lust weiterhin Frauen sind, und nicht nur weibliche Menschen. Mir selbst wird von Kritikern manchmal ein sehr männlicher Blick auf die Welt vorgeworfen. Da kann ich nur sagen: Welch einen Blick erwarten die denn von mir? Aus weiblicher Perspektive könnte ich niemals einen Roman schreiben.

In ihrem neuen Roman kommen eine Menge Blutrituale vor. Was halten Sie von Hermann Nitschs Orgienmysterientheater?

MP: Davon habe ich nur gelesen. Möglicherweise ist das ein rein theatrales Spektakel, Koketterie mit dem Mysterium. In Kuba dagegen habe ich Opfer als notwendigen Bestandteil religiöser Zeremonien erfahren: Das ist keine Publikumsunterhaltung, die Schlachtung ist eingebunden in gewisse Schutz- und Schadenszauber, ist nicht zuletzt auch, wenn man so will, der Auftakt einer sehr aufwendigen Zubereitung eines Festessens. Insofern ist das Ganze auch ein familiärer Akt, ein stundenlanges kommunikatives Miteinander, so etwas hat eine ganz andere gesamtkathartische Funktion.

Ist das nicht sehr antiaufklärerisch?

MP: Das sagt man schnell. In der Erfahrung dieser Rituale habe ich gemerkt, was vom Programm der Aufklärung (bei aller Restbegeisterung dafür!) aus unserem Leben ausgetrieben wurde. Einen Schuß Gegenaufklärung darin fände ich mittlerweile erwägenswert – einen Schuß, nicht mehr! Das Geheimnisvolle der Welt ist ja nicht per se weniger wert als das restlos Erklärte. Im übrigen ist die Enträtselung der Welt inzwischen an einen Punkt gekommen, wo sie ohnehin in ihr Gegenteil umschlägt: Wir leben bereits in Zeiten der Gegenaufklärung, allerdings einer hochtechnizistischen, die nurmehr Experten als deren Hohepriester begreifen, und das auch nur innerhalb ihres „religiösen“ Fachgebiets. Ich selber verstehe z.B. schon nicht mal mehr wirklich, wie mein Autoradio funktioniert.

Gibt es eine literarisch-ästhetische Tradition, an die Sie anknüpfen wollen, insbesondere in Hinblick auf den „Relevanten Realismus“?

MP: Eine Zeitlang bin ich sehr durch experimentelle Literatur geprägt worden, gerade mein Erstling ist ohne sie nicht zu denken, und trotzdem habe ich mich gern davon wegentwickelt. Spätestens mit dem „Weiberroman“ wollte ich zwar formal und satzbautechnisch weiterhin über die Grenze von Konsensliteratur hinaus, dabei aber nicht immer nur gegen den Strich erzählen, gegen die Leseerwartung – möglicherweise wollte ich auf meine Weise hin zu den großen Epen. Meine früheste literarische Prägung ist nämlich die „Odyssee“; ich habe sie in einem Alter gelesen, wo ich sie überhaupt nicht verstand, wahrscheinlich hat sie mich deshalb so tief beeindruckt. Ständig war ich damit beschäftigt, wenigstens den Fortgang der Handlung in meinem Schulatlas zu rekonstruieren, und ohne es bewußt zu wollen, habe ich im Lauf der Lektüre den Klang der Verse als quasiorganische Vibration aufgenommen, habe irgendwann selber in diesen schwingenden Perioden geredet. Das ist es, was ich heute auch mit meinen eignen Texten erreichen möchte: einen Sound, der den Leser ergreift, ihn sogar über ein punktuelles Nichtverstehen hinwegzutragen vermag, und trotzdem dahinter eine Riesengeschichte.

Was muss eine Literatur haben, die auf der Höhe der Zeit ist?

MP: Es gibt eine Art Betulichkeitsliteratur, die von vornherein auf der feuilletonistisch korrekten Seite steht. Die finde ich in ihrer Mutlosigkeit letztlich epigonal – sie tut niemandem weh, jeder weiß von vornherein, wie die moralischen Akzente gesetzt sind, hier herrscht latent noch der Aufarbeitungswille der Nachkriegszeit. Feuilletonistisch korrekte Literatur bedient sich vor allem auch einer überkommenen Ästhetik, die all die gängigen Erwartungen hinsichtlich gebrochner Helden, Verstörungen und „Verwerfungen“ bedient. Ich glaube hingegen, ein Stück Literatur muß mehr sein als die fiktionale Umsetzung hochlöblicher Meinungen, es muß dem Zeitgeist stets ein Stück voraus- oder meinetwegen auch hinterhersein, Hauptsache, es packt den Leser. Am besten dort, wo er‘s gar nicht erwartet; notfalls auch, indem es ihm wehtut.

Haben Sie dafür Beispiele?

MP: Mit meinem letzten Roman, der einen weißen Mann in eine zutiefst schwarze Welt schickt, habe ich die Erfahrung gemacht, daß die Behandlung religiöser Fragen Tabus berührt, von denen ich keine Ahnung hatte. Wer hätte auch nur gewagt zu denken, daß man mit der Darstellung afrokubanischer Kulte mehr Aufregung erzeugt als zum Beispiel mit derjenigen der NS-Zeit? Letzteres sind wir mittlerweile anscheinend gewöhnt; das Thema „archaische Religion“ dagegen ist auch für den, der sich schreibend daran abarbeitet, ein Risiko, das bringt mich bereits als Autor an den Rand meiner Möglichkeiten. Ein Skilehrer hat mir einmal beigebracht, ich bin ja früher auch Rennen gefahren, hat mir regelrecht eingetrichtert: Wenn Du an einem Tag nicht mindestens einmal gefallen bist, bist du nicht gut gefahren. So, glaube ich, muss auch ein Roman geschrieben werden: Meistens kommt man gerade noch knapp an den Stangen vorbei und ins Ziel, aber irgendwann haut’s einen eben auch mal raus. Erst danach weiß man, daß man sich an eine Grenze herangeschrieben hat.

Geht es der Literatur in Europa wie den Kirchen: Sind beide machtlos gegen ihren Machtverlust?

MP: Ja, die Literatur hat ihre Rolle als zentrales Referenzmedium unsrer Kulturgesellschaft seit Jahren verloren. Das liegt nicht nur am Egotrip unserer Generation, der dieser Nebenaspekt von Literatur egal war, wenn nicht gar verdächtig. Es liegt vor allem auch daran, daß die alte Kulturgesellschaft gar nicht mehr existiert. – Das Gute am Bedeutungsverlust des Literarischen war immerhin, daß es sich dadurch wieder selbst entdeckt hat, all seine erzählerischen Möglichkeiten, und nicht mehr nur dem Autor, sondern auch und vor allem wieder dem Leser Vergnügen bereiten will. Nur: Das wurde gegen Ende des 20. Jahrhunderts bereits mit einer Fülle an deutschsprachigen Büchern eingelöst. Es wäre an der Zeit, sich jetzt auch wieder thematisch neu zu positionieren, sich den großen Anforderungen zu stellen, die z.B. solch komplexe Gebilde wie unsre modernen mitteleuropäischen Gesellschaften im Sog des Globalismus darstellen. Man könnte sich durchaus wieder aktiver einmischen und zeigen, dass ein Schriftsteller als Fachmann fürs Allgemeine vielleicht noch Zusammenhänge sieht zwischen unsern auseinanderdriftenden Parallelgesellschaften – letzteres sind ja nicht nur irgendwelche nichtintegrierten „Ausländer“, das sind ja wir selbst, die zahlreichen Subgesellschaften unsrer zerfallenden Gesamtgesellschaft.

Wie sehen Sie dann die Rolle des Glaubens, der Kirchen in diesem Machtgefüge?

MP: Ich bin ja evangelisch erzogen worden, also ganz ohne Ritus, ohne Mysterium, ohne Geheimnis. Gerade habe ich gelesen, daß die evangelischen Bischöfe ein Benimmbüchlein für Gottesdienstbesucher herausgegeben haben, in der Applaus ausdrücklich begrüßt wird, sofern die Predigt gut war. Als nächstes wird man, wie beim Auschecken im Hotel, nach dem Segen einen Zettel zum Ankreuzen bekommen: „Helfen Sie uns, daß unser Service noch besser wird!“ Wir in Zentraleuropa sind in puncto Inszenierung des religiösen Mysteriums vollkommen auf den Hund gekommen. Wer dürfte denn applaudieren, wo er staunend an einem Geheimnis teilhaben könnte?

Wie geht’s Ihnen mit der neuen Kanzlerin?

MP: Überraschend gut. Des Unkens war vorher ja kein Ende; doch gerade die Synergien, die zwischen einem Realo wie Müntefering, der den Zigarrenheini gar nicht erst mimt, und einer Frau entstehen, die von vornherein zum Glamour nicht taugt, also zwischen zweien, die nur die Möglichkeit haben, effektiv miteinander zu arbeiten, diese Synergien kommen im Moment in Deutschland sehr gut an, auch bei traditionell eher linksliberalen Wählern.

Wird Deutschland Fußballweltmeister?

MP: Das kann man nur als Österreicher ernsthaft befürchten.