„Ein richtiger Schriftsteller braucht keinen Entertainerlärm“
„Ein richtiger Schriftsteller braucht keinen Entertainerlärm“Interview: Wolfgang Höbel
ab 10.11.2011 auf http://www.spiegel.de
„Die Welt auf Deutsch“ ist das Motto des diesjährigen Münchner Literaturfests. Ist das nicht eine sehr kleine Welt?
Bis zum Ende der Nachkriegsliteratur war sie das vielleicht. Seit 20, 30 Jahren gehen deutsche Autoren jedoch verstärkt in die Welt hinaus, unsere Literatur hat mittlerweile wieder ein solch weites Spektrum wie vor 100 Jahren.
Aber bringen die Deutschen auch etwas in die Welt hinein? Wird die deutschsprachige Literatur im Konzert der Weltliteratur wahrgenommen?
Nichts ist so überlebensfähig wie ein Klischee. Das habe ich Anfang des Jahres auf meiner Lesereise in England wieder feststellen müssen. Dort gilt die deutsche Literatur noch immer als langweilig, handlungsarm, gedankenschwer. Erfüllt man diese Erwartung als Autor nicht, gilt man als „undeutsch“, dies durchaus als Kompliment gemeint. Die Frage ist nur, ob man sich als Deutscher davon geschmeichelt fühlen sollte.
Dann verbindet man also im Ausland mit deutscher Literatur immer noch die grübelnden, humorlosen Deutschen?
Vielleicht sollten wir mit der Umbegreifung von „deutscher Literatur“ erst mal bei uns selber beginnen, sollten die neuen Tugenden von Fußballdeutschland auch an der eignen Person erproben: und uns mit Lust und bester Laune ausstatten, wenn wir uns auf Auslandstournee begeben. Andrerseits darf man auch nicht nur mit Abtauchen beschäftigt sein und Drauflos-Assimilieren; zum echten Kosmopoliten gehört seine regionale Verwurzelung. Erst wenn man zu seiner Herkunft steht, wird man das Provinzielle hinter sich lassen, ohne sich im Globalen zu verlieren.
Sie appellieren demnach an die deutschsprachigen Literaten, ein neues Selbstbewusstsein entwickeln?
Wir haben das Literaturfest ins Zeichen der deutschsprachigen Literatur gestellt, ohne damit auch nur den Hauch eines nationalistischen Gedankens zu verbinden. Hingegen die Freude an einem Kulturraum schon, einem Kulturraum, der in den letzten Jahrhunderten eminent fruchtbar war und es weiterhin ist. Diesen Reichtum unserer Gegenwartsliteratur möchten wir den Lesern überblicksartig zeigen, ihre Weltzugewandtheit und stilistische Bandbreite.
Es gibt Kritiker, die beklagen, dass es seit Thomas Mann keine großen deutschen Romane von jungen Autoren mehr gibt. Stimmen Sie in die Klage ein?
Wir müssen uns hinter keiner Epoche verstecken, hinter Thomas Mann schon gar nicht. Das Kernland der deutschen Literatur ist freilich immer die Lyrik gewesen, damit waren wir schon zu verschiedenen Zeiten Weltklasse. Und da wächst auch gerade wieder eine Vielfalt heran, die wir in ihrer Fülle nur auf uns wirken lassen müssen – einer Fülle wie vielleicht zuletzt im Expressionismus.
Sie verlangen den Autoren während des Literaturfests einiges ab, verordnen ihnen das Bad in der Menge, lassen Schüler und Studenten auf sie los. Kann das funktionieren?
An normalen Lesungen ist in München kein Mangel; zu einem Literaturfest gehört für mich ganz wesentlich auch die Debatte über Literatur, gehört die unmittelbare Begegnung mit den beteiligten Schriftstellern und Kritikern, gehört die Geselligkeit, aus deren Geist überhaupt erst ein kulturelles Klima entsteht, und sei’s nur für diese eine Woche. Die 77 Mitwirkenden am forum:autoren sind für mehrere Tage in der Stadt, sie lesen an 30 Schulen, diskutieren jeden Tag an der Uni, beenden jeden Abend mit uns ab 22 Uhr im „Salon der lebenden Schriftsteller“, summa summarum: sind für die Münchner fast aller Altersschichten tatsächlich auch erlebbar, darauf legen wir großen Wert. Übrigens gefällt den eingeladenen Schriftstellern das Konzept, manche von ihnen bleiben sogar länger, um nichts zu verpassen.
Früher verlangte es die Autoren nach dem idealen Leser. Brauchen wir heute stattdessen den idealen Schreiber?
Vielleicht den idealen Kommunikationsprozeß zwischen beiden? Der auch an der Oberfläche eines Textes funktioniert, dort muß die Kommunikation ja zunächst einmal gelingen. Wobei sie natürlich an jedem möglichen Moment auch in die Tiefe gehen kann. Der ideale Text, einer, der gleichzeitig linear wie vertikal zu lesen ist, wäre für mich stets doppelbödig: Gerade weil er sich nicht gegen das Vergnügen des Lesens sperrt, kann er seinen Anspielungsreichtum und Tiefsinn en passant entfalten, nämlich für denjenigen, der ein Auge dafür hat und sein Vergnügen daran findet. Aber auch all die anderen, die ohne jede Dechiffrierungslust einfach nur draufloslesen wollen, sollten genug zu beißen finden – gar nicht einfach für einen Autor, all diese unterschiedlichen Leserinteressen im Hinterkopf zu haben. Und trotzdem in jedem Satz er selber zu bleiben, also zu schreiben, ohne sich je zugunsten irgendeines Leserinteresses zu verbiegen. Handwerkliche Perfektion ist auch in anderen Berufen ein veritabler Lockstoff; darunter muß freilich das wahre Abenteuer der Literatur beginnen, sonst wäre ein Buch ja kaum mehr als sein Plot.
Bücherfern hieß lange Zeit zugleich bildungsfern zu sein. Soll der Blog ,fabmuc.de’ die netzaffine Bildungselite für das Literaturfest begeistern?
Das müssen nicht unbedingt die internetaffinen Jugendlichen sein, bei denen wir gar nicht wissen, ob das funktioniert – Hauptsache erst mal, sie bekommen auf diese Weise mit, daß es das Literaturfest gibt. Der Blog funktioniert aber mit Sicherheit bei unseresgleichen; wir erreichen damit Leute weit außerhalb des Münchner Einzugsgebiets. Übrigens werden im Lauf des Literaturfests alle Fünfminutenstatements gepostet, die unsre Schriftsteller und Kritiker zu den „Klartext“-Debatten mitgebracht haben: eine veritable Online-Tapete zum Stand der Gegenwartsliteratur, die über den Tag hinaus von Interesse sein dürfte.
Haben Sie gezögert, als man Ihnen angetragen hat, Kurator zu sein?
Politycki: Nein, ein solch großes Literaturfest ist auch eine Chance, eine Idee zu inszenieren, Anstöße zu geben, etwas zu bewegen. Mein Verleger ist freilich schon ein bisschen nervös, denn für dieses Amt verwandelt man sich ein Jahr lang in einen Veranstalter, zum Schreiben kommt man dabei nicht. Nunja, 2011 war eben mein „soziales Jahr“.
Ein Jahr lang haben Sie das eigene Schreiben zurückgestellt?
Zumindest meine Hauptaufgabe, vor der ich mich schon seit 23 Jahren drücke: ein Roman mit dem Titel „Samarkand Samarkand“. Inzwischen habe ich so viele Anläufe unternommen, ihn zu schreiben, so viele Bücher gelesen, Wanderungen in den Gebirgen rund um Samarkand unternommen, auf den Spuren meiner Hauptfigur, daß es höchste Zeit wird, mit der Niederschrift zu beginnen.
Sie haben 50 Autoren eingeladen, aus ihren Werken zu lesen. Aber Sie selbst lesen nicht aus Ihren Werken. Tut das weh?
Nein. Als Kurator bin ich auch Gastgeber bei jeder meiner Veranstaltungen, Gastgeber für die eingeladenen Autoren und Kritiker, Gastgeber nicht minder fürs Münchner Publikum – eine Hundert-Prozent-Rolle, da können Sie nicht nebenbei auch noch lesen. Hoffentlich lassen sich die Münchner von der Euphorie anstecken, mit der wir, das ganze Team, diese eine Woche geplant haben!