„Ich brauche eine Art Sicherheitsnetz“
„Ich brauche eine Art Sicherheitsnetz“Interview: Antoinette Schmelter-Kaiser
Bonus. Das Magazin der Volksbanken Raiffeisenbanken. Nr. 4/April 2017.
Calvani: Wie ging das, wie wurde in wenigen Jahren aus dem Laufen ein so riesiges Lifestylespektakel?
Das ist ja nicht zum ersten Mal passiert, denken Sie nur an die Rockmusik.
Calvani: Aber wie?
Am Anfang der Kapitalisierung einer Idee steht immer der Guru. Langlauf als Breitensport wurde zunächst von einzelnen entdeckt, so wie Aerobic zum Beispiel von… wie hieß sie? Cindy Crawford?
Goedzak: … Jane Fonda.
Genau, die auch. Spätestens wenn die Sache dann in Insiderkreisen richtig abgeht, macht irgendwer einen Trend draus, den man vermarkten kann. Aber eigentlich interessiert mich derlei beim Thema Laufen nur am Rande.
Calvani: Wo tritt denn die Ökonomisierung des Laufsports zutage?
Sie beginnt bei der Selbstoptimierung des einzelnen Läufers und hört bei der Vermarktung von Volksläufen als Events noch lange nicht auf. Übrigens muß man auch den Marathon selbst „ökonomisch“ laufen, sonst bricht man irgendwann ein.
Calvani: Sie kritisieren sehr viel und dabei bleibt es dann.
Eher: Ich begeistere mich für vieles, aber dabei bleibt es dann selten. Auch über viele Aspekte der Kommerzialisierung eines im Grunde einfachen Sports freue ich mich – ein Schuh, der bei Crossläufen wirklich Halt gibt, ist doch etwas Wunderbares! Davon hätte ich nur träumen können, als ich mit 16 die ersten Läufe querfeldein machte. Meine Marathon-Phase ist relativ jung. Viel wichtiger waren mir über Jahrzehnte Läufe welcher Länge auch immer, bei denen man Neues sehen konnte: Landschaften hinterm Horizont oder Rückseiten von Städten – als Läufer kommt man da einfach weiter als bei einem Spaziergang. Und dann gab es auch lange Phasen, in denen ich einfach nur Jogger war, weil mir Fußball oder Skifahren wichtiger war. Diese Vielfalt macht ja den Reichtum des Laufens aus.
Calvani: Mich hat überrascht, dass Sie das Laufen als etwas Soziales darstellen.
Auch unter Läufern gibt es einsame Wölfe; ich selbst gehöre zu denen, die einen Lauf unter Freunden vorziehen – eine Wochendeinheit von 30 bis 35km wird durch gute Gespräche deutlich kürzer. Und wenn es richtig hart wird, läuft man ja nicht nur miteinander, sondern füreinander. Die Hilfsbereitschaft selbst gegenüber Wildfremden ist unter Läufern extrem hoch. Da kommt es auch bei Rennen zu „urchristlichen“ Handlungen, die einen fast wieder ans Gute im Menschen glauben lassen.
Calvani: Sie schreiben über Tugenden der Arbeiterklasse, die mich an die Geschichten meiner Bergmannsfamilie erinnert haben.
Tugenden der Arbeiterklasse? Ich habe ein Kapitel über „alte deutsche Tugenden“ geschrieben, wie sie im Fußball immer mal wieder eingefordert und unter Läufern ganz selbstverständlich gelebt werden. Im Alltag vermisse ich diese Tugenden oft, da ist im Verlauf der letzten Jahrzehnte etwas in unserer Gesellschaft verlorengegangen. Unter extremen Anforderungen taucht es wieder auf, auch beim Bergsteigen oder bei Reisen in der Dritten Welt, da wachsen wir Superindividualisten schnell wieder mit unseren Mitmenschen zusammen.
Calvani: Das klingt wie kleines Paradies.
Was wir heutzutage als Toleranz ausgeben, ist de facto doch oft nur Gleichgültigkeit. Läufer sind alles andere als gleichgültig, was ihre Mit-Läufer betrifft, das ist der entscheidende Unterschied.
Calvani: Ich will das nicht romantisieren, denn es ist doch eher die gemeinsame Sache, die zusammenschweißt und neue Zwänge schafft.
Aber das sind selbstauferlegte Zwänge, die uns einen gemeinsamen Lauf doppelt genießen lassen! Nächste Woche bin ich zum Beispiel mit einem Läufer verabredet, den ich noch nie gesehen habe, trotzdem bin ich mir sicher, daß er auf die Minute pünktlich sein wird. Verläßlichkeit verändert auch alles andere, weit übers Laufen hinaus.
Calvani: Sie schreiben, dass die Ordnung des Trainings Grund für Ihre Marathonläufe sind. Das Laufen bewahrt einen vor den „Impulsgewittern unseres Alltags“. Geht das auch bei einem 9 to 5 Job?
Die klare Strukturierung des Alltags über Monate hinaus ist nur einer der Punkte, die ich am Marathontraining schätze. Aber Sie haben recht, unter Läufern gibt es viele Freiberufler und Leute in gehobenen Positionen. Neulich erzählte mir ein Fliesenleger, daß seine Frau regelmäßig läuft, er selbst hingegen nicht, ganz einfach deshalb, weil er nach dem Fliesenlegen kaputt ist. So betrachtet, ist Laufen Ausdruck einer Luxusgesellschaft.
Goedzak: Mich reizen die Themen Laufen und Marathon nicht, aber wie assoziativ Sie diese Themen mit anderen verknüpfen, hat mich angeregt …
Marathon eignet sich als Metapher, die fast auf jeden Lebensbereich anwendbar ist, übrigens auch aufs Schreiben.
Goedzak: Das birgt natürlich auch die Gefahr, nur an der Oberfläche zu kratzen. So beschreiben Sie das ausdauernde Geradeauslaufen, das Kämpfen gegen den Schmerz, den Sieg über sich selbst, als eine typische Attitüde der Moderne.
Nein, mit Schmerz oder Selbstüberwindung haben weder Moderne noch Postmoderne zu tun; in meiner Interpretation geht es allein um das unterschiedliche Tempo, in dem die Welt wahrgenommen und reflektiert wird.
Goedzak: Sie sagen, wer lange, gerade Läufe macht, will nicht originell sein. Dann aber stellen Sie dem Flaneur als Typus der Moderne den Läufer als Typus der Postmoderne gegenüber.
Ich sage, und ich meine das natürlich metaphorisch: Wer lange genug geradeaus läuft, wird selbst gerade. Ein Läufer will eine Strecke in der für ihn bestmöglichen Zeit zurücklegen, da bleibt kein Raum für originelle Schlenker, alles muß effizient und geradlinig ineinandergreifen. Das ist eine Haltung, die man durchaus auch als Mensch oder als Schriftsteller einnehmen kann. Wenn ich von Postmoderne spreche, so grenze ich mich dabei gegen das rein Spielerische ab, das dem Begriff innewohnt. Marathon ist für mich deshalb so faszinierend, weil er unsre Sehnsucht nach dem Ernsten stillt.
Goedzak: Das ist das allgemeine Merkmal des Alltäglichen: die Ambivalenz. Auf Ambivalenzen gehen Sie häufig ein, auch die zwischen Mann und Frau.
Eigentlich gehe ich eher darauf ein, wie sich die Ambivalenzen der klassischen Geschlechterrollen im Läuferalltag zunehmend verwischen und teilweise sogar ins Gegenteil verkehren: Frauen nehmen als Marathonläufer „männliche“ Eigenschaften an, Männer „weibliche“ – das gesteigerte Ernährungsbewußtsein zählt dazu, die freiwilligen Arztbesuche und vieles mehr.
Goedzak: Sind das nicht Klischees von Weiblichkeit und Männlichkeit? Gibt es feministische Reaktionen auf das Buch?
Ein, zwei solcher Reaktionen gab es; erschrocken hat mich, daß dabei das, was irgendwelche Figuren des Buches sagen, einfach als meine eigene Meinung unterstellt wird. Dabei ist auch „42,195“ schon während seiner Entstehung von vielen Frauen begleitet und kritisch gelesen worden, allen voran meine Ehefrau, meine Cheflektorin, auch meine weiblichen „Laufkumpel“, die mit ihren Meinungen ja im Text vertreten sind.
Goedzak: Hätte die Entfernung vom Durchschnittstyp nicht besser ohne das konventionelle Bewertungsraster weiblich/ männlich benannt werden können?
Sie mögen das für konventionell halten, aber wir werden nun mal als Männer oder Frauen ins Leben geschickt. Und wenn sich diese verschiedenen Ausgangsbedingungen ausgerechnet während eines Marathontrainings in ihr Gegenteil verkehren, finde ich das schon ein Kapitel wert. Emanzipation hin oder her, viele Frauen wollen Männer aber gar nicht unbedingt so, wie sie dabei werden.
Goedzak: Dass Sie problematisch finden, dass der Läufer zu einem Mann wird, den Frauen nicht mehr wollen und umgekehrt, habe ich wohl überlesen.
Es steht auf S. 101. In manchen Beziehungsannoncen sprechen es die Frauen knallhart aus: „Kein Ausdauersportler“. Im Kapitel „Anmut und Würde“ habe ich ein bißchen genauer betrachtet, was dahinterstehen könnte; Schillers Begriffspaar eignet sich dazu gut, Anmut wird von ihm ja als „Schönheit in der Bewegung“ definiert.
Goedzak: Sie schreiben, dass Schönheit beim Extremsport verloren geht. Der Verlust an patriarchalischer Anmut ist für mich so gar kein Problem.
Eine „patriarchalische Anmut“ kommt bei Schiller nicht vor, und auch sonst habe ich nie davon gehört. Der Laufsport als Ganzes ist voller Anmut, auch voller Erotik, wenn man an die entsprechende Werbung denkt. In der Realität findet man das eine wie das andre überall dort, wo gejoggt wird. Bei einem Marathon hingegen bleibt für derlei wenig Raum. Der legendäre Emil Zátopek wurde für seinen Laufstil sogar in den Medien verspottet. Worauf er konterte, er habe keine Zeit, um auch noch zu trainieren, beim Laufen gut auszusehen.
Goedzak: Ist das nicht musterhafter Schönheitsbegriff? Kann sich ein Marathonläufer nicht in eine Frau verlieben, weil sie beim Marathonlauf nicht schön aussieht?
Ob sich ein Mann ausgerechnet während eines Marathons verlieben kann, wage ich nicht zu beantworten. Hingegen weiß ich aus eigener Erfahrung, daß sich Körper, Geist und Gemüt im Verlauf eines Marathontrainings verändern, erst recht im Lauf eines Marathonläuferlebens – ein weites Feld, auch unter zwischengeschlechtlicher Perspektive.
Calvani: Es gibt einige Stellen im Buch, die arg populistisch wirken, das Kapitel „Jüdisches Poker“ zum Beispiel. Hätte es nicht eine schlitzohrige christliche Geschichte gegeben, die neben dieser hätte stehen können?
Die Geschichte heißt „Jüdisch Poker“ und ist von Kishon, ich habe sie schon als Jugendlicher geliebt. Wenn ich stattdessen eine christliche Geschichte genommen hätte – die es freilich mit dieser Pointenstaffette, wie sie so wunderbar auf Marathonangeberei angewandt werden kann, nicht gibt –, hätten Sie mir da vielleicht eine Diskriminierung aller anderen Glaubensrichtungen vorgeworfen?
Calvani: Ähnlich verhält es sich mit den „radikaleren Kulturen“. Mir leuchtet nicht ein, warum Sie am Schluss diese Pointe setzen.
Sind Sie schon mal im arabischen Raum gereist?
Calvani: Mal eine Pauschalreise, aber dabei habe ich wenig Nichttouristisches gesehen und erlebt.
Das Nichttouristische ist in diesem Zusammenhang entscheidend. Nur soviel: Destruktive Energien können durch Laufen kanalisiert werden. Nach einem Lauf ist jeder von uns ein besserer Mensch, zumindest eine Zeitlang.