„Nicht jeder Mensch ist ein Künstler“
„Nicht jeder Mensch ist ein Künstler“Interview: Britta Schultejans
leicht gekürzt als dpa-Meldung, 3/11/11
Lieber Herr Politycki, in einem Ihrer jüngeren Bücher mit dem Titel „In 180 Tagen um die Welt“ verarbeiten Sie – literarisch – Ihren Reise-Aufenthalt als „writer-in-non-residence“, als „Schiffsschreiber“ auf dem Kreuzfahrtschiff „MS Europa“. Ist für Sie ein Schriftsteller notwendiger Weise ein Reisender, ein Kosmopolit?
Nicht notwendigerweise, doch das vorübergehende Verlassen der alltäglichen Versuchsanordnung hilft der eigenen Kreativität ungemein auf die Sprünge, im Fremden sind wir wacher, verletzlicher, kehren nicht selten als ein anderer heim. Und blicken dort dann auch noch eine ganze Weile aufmerksamer aufs Vertraute als zuvor.
Wie haben Sie auf dem Schiff als Schriftsteller gearbeitet?
Die Hauptarbeit des Schriftstellers besteht meiner Meinung nach darin, nicht zu schreiben. Sondern hinzugucken, zuzuhören, ein Stück weit am Leben seiner Mitmenschen teilzunehmen. Ohne all diejenigen, die auf direkte oder indirekte Weise zum Entstehen eines Werkes beitragen, wäre man beim Schreiben arm dran – und das gilt in besonderem Maß für ein Projekt, dessen Rahmenbedingungen einem ja zunächst vollkommen unvertraut sind, die der Luxuskreuzfahrt.
Wie würden Sie grundsätzlich Ihr Schreib-Verfahren beschreiben (arbeiten Sie mit Notizbüchern, mit Bleistift und Papier, ausschließlich mit PC etc.)?
Früher habe ich sogar eine spezielle Tinte abgemischt, ehe’s an die Erstniederschrift eines Textes ging; heute „pflege“ ich all meine Notizen möglichst zeitnah in diverse Dateien „ein“. Auf diese Weise kann ich beispielsweise einen Roman an allen Stellen gleichzeitig bearbeiten, und dies stets aus einem direkten Impuls heraus, ohne Einfall und Energie auf später aufzuschieben und dabei gegebenenfalls auch wieder zu verlieren – ich schreibe weitgehend „unlinear“, obwohl ich parallel dazu selbstverständlich immer auch an der Gliederung arbeite. Wenn’s dann richtig ernst wird, wenn der Roman wirklich von Anfang bis Ende erzählt werden muß, ist ein Großteil der Arbeit schon getan. Fördert die Schreiblust enorm! Ohne Notizbuch läuft aber nach wie vor bei mir gar nichts, die besten Ideen kommen schließlich fernab des Schreibtischs, wenn man sie am allerwenigsten sucht.
Welchen Einfluss hat die Wahl des Schreib-Werkzeugs (Bleistift, PC etc.) auf Ihr Schreiben?
Einen gewaltigen. Stift ist nicht gleich Stift, PC ist schon gar nicht gleich MAC, jeder Wechsel des Werkzeugs verändert das Werk. Ich bin fest davon überzeugt, daß durch die perfekte Wiedervorlage-, Verknüpfungs- und Erinnerungsfähigkeit von Schreibprogrammen, so man sie mit Augenmaß verwendet, wesentlich dichtere Texte auf der Langstrecke entstehen können als beispielsweise zur Goethe-Zeit.
Arbeiten Sie selbst mit Schreibmethoden bzw. Schreibverfahren (z.B. automatisches Schreiben)?
Nein. Ich notiere alles sofort auf, was mir auf- und einfällt, gewissermaßen halbautomatisch, und zwar in Bezug auf sämtliche Projekte, die ich in absehbarer Zukunft anpacken möchte. Derzeit sind das drei Romane, ein Aphorismenband, diverse Erzählungen und, natürlich, der nächste Gedichtband. All diese Dateien „bewirtschafte“ ich permanent, die Einfälle passen mal da, mal dort, es gibt fast ständig etwas festzuhalten – da ist gar kein Raum für zusätzliche Schreibverfahren.
Stellen Sie sich einen Schreib-Plan auf?
Auch nicht. Aber natürlich folgt mein Schreiben gewissen stereotypen Abläufen bzw. Rhythmen: Zunächst einmal führe ich eine Aufstellung all der Titel, die ich noch schreiben möchte, eine Art Lebensplan; und was den Schreibprozeß in Bezug auf einen einzelnen Text betrifft: Er besteht so lang wir möglich darin, Namen, Wörter, Textsequenzen, Einzelszenen und Hintergrundinformationen zu sammeln, dann erst die Feingliederung zu machen, das Gesammelte entsprechend zuzuordnen, währenddessen die Gliederung wieder zu verändern, erneut zuzuordnen, zu sammeln … und auf diese Weise den Tag X ein weiteres und weiteres Stück hinauszuschieben, man findet ja immer einen Vorwand, sich mit irgendwelchen Vorarbeiten aufhalten zu dürfen. Bis der Druck schier nicht mehr auszuhalten ist. Erst dann schreibe ich los. Ohne Punkt und Komma, bis zur völligen Erschöpfung, als wäre ich auf der Flucht.
Woher „schöpfen“ Sie Ihre Ideen?
Ideen liegen ja in der Regel im Hinterhalt, sie überfallen uns, wenn wir überhaupt nicht damit rechnen – so bin ich ja überhaupt zum Schreiben gekommen, so ist es geblieben, ich hatte nur die Wahl, mich damit zu arrangieren. Keines meiner Bücher habe ich freiwillig geschrieben, qua Willensbeschluß, qua Themen- oder Stoffwahl. Ich wäre den Ideen gern ausgewichen, den allerersten Inspirationen, aber sie waren einfach zu stark, sie setzten die Themen, die Stoffe für mich, am unerbittlichsten, wenn ich mich am andern Ende der Welt und vor ihnen in Sicherheit wähnte.
Das „Kreative Schreiben“ US-amerikanischer Provenienz, das in Deutschland immer stärker auch im Deutschunterricht Anwendung findet, betont explizit diese „Eckpunkte“ des literarischen Schreibens, etwa das Schaffen einer Schreibsituation und Schreibatmosphäre, die Stimulation und Anregung des Schreibens durch Verfahren und Methoden, auch durch Gegenstände, die Konzeption und Fortführung des Schreibens durch Pläne usw. In welchem Verhältnis steht die deutschsprachige Gegenwartsliteratur zu diesem „Kreativen Schreiben“?
Kann sein, daß sich die jüngsten Autorengenerationen solcher Methoden bedienen; „die“ deutschsprachige Gegenwartsliteratur jedoch ist nicht zuletzt so faszinierend, weil sie so heterogen ist, gewiß auch im Hinblick darauf, wie sie entsteht. Ob durch „kreatives Schreiben“ überhaupt? Das wäre erst noch zu beweisen.
Ist literarisches Schreiben überhaupt lehr- und lernbar?
Nur bis zu einem gewissen Punkt: Autoren kann man machen, Schriftsteller nicht. Das gesamte Handwerkszeug ist lehr- und lernbar, immerhin; das entscheidende Quentchen, das den Unterschied macht, hingegen nicht. Es ist ja auch in jedem Einzelfall ein anderes Quentchen.
Bietet das „Kreative Schreiben“ es an, so etwas wie literarische Erfahrung schlechthin zu machen, auch für junge Schreiberinnen und Schreiber?
Gewiß. Vor allem, was die Schwierigkeiten betrifft, die während des Schreibens trotz aller Vorbereitung neu entstehen; mit dem Überwinden von Schwierigkeiten steigt der Wert einer Erfahrung ja in der Regel erheblich an.
Wo sehen Sie weitere Möglichkeiten, eine derartige (ästhetische) Erfahrung zu machen – als „Literatur-Vermittlung“?
Sofern die Vermittlung nicht auf Kumpanei hinausläuft. Nichts verführerischer als eine Anbiederei nach dem Motto „Jeder ist ein Künstler“; zur Erfahrung von Kunst gehört ganz wesentlich das Staunen, das Verzaubert-Werden, die Hochachtung, das Bewundern-Dürfen.
Spielt hierbei auch so etwas wie „literarische Geselligkeit“ eine Rolle, ein Begriff, der ja mit der Geschichte bzw. den Anfängen des „Kreativen Schreibens“ im 19. Jahrhundert sehr eng verbunden ist?
Literarische Geselligkeit sollte auf verschiedenen Ebenen funktionieren und dabei verschiedenste Zustandsformen annehmen: unter Schriftstellern, unter Lesern, unter Schriftstellern und Lesern. Alle drei Formen können außerordentlich anregend sein.
Wie würden Sie die Bedeutung der Begegnung des Publikums mit dem einzelnen Schriftsteller, wie sie bei Lesungen und Podiumsdiskussionen möglich wird, einschätzen?
Nicht selten ist man überrascht, wie anders das Publikum auf den Text reagiert, als man’s selber tat, beim Schreiben. Wie anders er klingt, der Text, wenn man ihn nicht nur für sich selber liest. Wie viele Fehler man plötzlich darin entdeckt, wie sehr es not täte, alles noch einmal zu überarbeiten. Und dann erst die ganze Palette an Anregungen, wenn man nach der Lesung miteinander ins Gespräch kommt! Manchmal werden einem da regelrechte Schlüsselszenen künftiger Texte frei Haus geliefert, man braucht bloß mitzunotieren.
Sie sind in diesem Jahr zum Kurator des „forum:autoren“ beim Literaturfest München bestellt worden – könnten Sie kurz das Programm umreißen?
Unser Motto heißt diesmal „Die Welt auf deutsch“, wir sind überzeugt, daß die deutschsprachige Literatur längst ihre provinzielle Selbstbeschränkung überwunden, daß sie so welthaltig geworden ist wie jede andere auch: Nicht wenige unsrer Autoren reisen stellvertretend für uns alle hinaus in die Welt und bringen Welt-Stoffe nach Hause, in unsere Sprache; andererseits gibt es zunehmend Autoren, die in unsre Sprache hineinreisen, sie auf neue Weise zum Klingen bringen. Fünfzig davon haben wir eingeladen – Romanciers, Erzähler, Lyriker aus Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Welche Schwerpunkte wollen Sie setzen, was wird neu sein?
Unser Schwerpunkt liegt auf der Literatur im engeren Sinne, wir machen keinerlei Zugeständnisse an die Unterhaltungsindustrie, an Zeitgeistprodukte, Genreliteratur. Es ist höchste Zeit, daß sich unser Kultur- und Literaturbegriff wieder von der schieren Quote wegentwickelt; wir zielen mit unserer Auswahl an Autoren auf nichts Geringeres als eine Bestandsaufnahme der Gegenwartsliteratur, unabhängig von Halbjahres- und Modetrends.
Wie fließen Ihre eigenen Vorstellungen von Literatur und literarischem Schreiben in Ihre Tätigkeit als Kurator ein?
Ich selbst stehe mit meinen Werken für eine ganz bestimmte Literatur, und weil ich ja gar nicht anders kann, habe ich von diesem meinem subjektiven Ausgangspunkt auf die Produktion meiner Kollegen geblickt, habe ausgewählt, was mir auf die eine oder andre Weise nahe ist, was mir als Leser Vergnügen bereitet hat, Vergnügen nämlich im Schillerschen Sinne. Übrigens wurde das von mir auch erwartet, fürs nächste Literaturfest wird schließlich ein anderer Kurator gewählt, der dann mit seiner Subjektivität Programm macht.
Sie wollen dabei insbesondere die deutschsprachige Gegenwartsliteratur in den Mittelpunkt stellen – erkennen Sie derzeit Tendenzen in diesem Bereich?
Noch vor 20 Jahren haben wir für eine „Neue Lesbarkeit“ kämpfen müssen; heute müßte man sich fast für dessen Gegenteil ins Zeug legen: Allzuviele unsrer Neuerscheinungen sind gut gemacht, sind sorgfältig konstruiert und geschrieben; zwischen den Zeilen geht es darin aber nur im seltensten Fall zur Sache, schon gar nicht in den Abgrund.
Ist eine Tendenz dieser Literatur in der und über die Gegenwart vielleicht die literarische Fiktion des Unterwegs-Seins, des Auf-Reisen-Seins, wiederum also etwas Kosmopolitisches?
Das Unterwegs-Sein ist gewiß Fluch und Segen unsrer Zeit, insofern auch ein zentrales Thema der Literatur, keine Frage. Wer aber wirklich gereist ist statt nur unterwegs gewesen zu sein, der ist überall dort im Geiste zu Hause, wo er eine Zeitlang die Bewegung unterbrochen und zur Ruhe zurückgefunden hat; er leidet an der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen oder, wenn Sie’s romantisch ausdrücken wollen (und ich bin bekennender Restromantiker), an der Sehnsucht. Der Sehnsucht nach einem anderen Ort als dem, an dem er gerade ist; der Sehnsucht nach dem Anderen schlechthin, dem ganz Anderen. Insofern ist ein Kosmopolit der Gegensatz eines Globalisten; wo sich dieser an der Faszination des globalen Dorfs berauscht, ist jener stets auf der Suche nach etwas, das im Mahlstrom der Globalisierung schon im nächsten Moment verloren gehen kann, vielleicht schon verloren ist – der Hüter einer untergehenden Welt, tapfer auf verlornem Posten.