Warum Schriftsteller Matthias Politycki aus Hamburg flieht

Warum Schriftsteller Matthias Politycki aus Hamburg fliehtGespräch mit Matthias Iken

erschienen/erscheint bei:

Hamburger Abendblatt, 31/7/21; Link zum Interview (nur für A+)

Entstehungszeitraum: 21/07/2021 - 25/07/2021

Interview

Herr Politycki, halten Sie Deutschland nicht mehr aus?

In den letzten Jahren fiel es mir jedenfalls zunehmend schwerer. Auch ich hatte die Überlegungen zur politischen Korrektheit anfangs begrüßt, weil ich sie für emanzipatorisch hielt. Was nun jedoch unter dem Begriff “Wokeness” unseren gesellschaftlichen Diskurs dominiert, ist nichts weniger als Pervertierung emanzipatorischen, also linken Denkens. Identitätspolitik fordert Vielfalt nur pro forma ein, verringert sie aber in Wirklichkeit, auch im sprachlichen Ausdruck. Hier maßt sich eine elitäre Minderheit an, die Welt nach ihrem Bilde neu zu erschaffen.

War ihr Text ein wütender Aufschrei, eine Warnung oder eine Abrechnung?

Eher ein erstauntes Räsonieren darüber, wie bereitwillig Intellektuelle Terrain freigeben und damit ihre Würde verlieren. In den Jahren vor der Pandemie war ich oft fort aus Deutschland, nicht selten monatelang. Während des Lockdowns habe ich die Polarisierung unseres öffentlichen Gesprächs zum ersten Mal nonstop und ohne Distanz verfolgt. Manchmal wollte ich mir in den Arm kneifen: Ist es Satire? Aber es war immer alles ganz ernst gemeint.

Wie fallen die Reaktionen aus?

Ich bekomme unglaublich viele Mails, die mir den Rücken stärken, vor allem von Wissenschaftlern, Journalisten und Schriftstellern, die ähnliches erlebt haben. Jeder hat sicher seine Gründe, warum er öffentlich schweigt. Auch ich habe lang gezögert: Es ist ja die eigene Peergroup, die man gegen sich aufbringt! Ich bin selber ein Linker, wenngleich keiner, der dem Zeitgeist verpflichtet ist. Als klassischer Linker übe ich Kritik an meinem linken Milieu. Trotzdem möchte ich meine Freunde behalten!

Was versprechen Sie sich denn von Ihrer Attacke?

Mein Artikel ist keine Attacke, sondern Einladung zum Gespräch – auf daß wir den Diskurs gemeinsam von den Rändern zurückholen in die Mitte der Gesellschaft. Wir alle haben jede Menge zu verlieren, auch in der Literatur geht es bereits ans Eingemachte. […|