Betreutes Wohnen auf der Bühne

Betreutes Wohnen auf der BühneVier Jahrzehnte im Dienst der Anti-Aging-Forschung: die Rolling Stones auf immerwährender Welttournee

erschienen/erscheint bei:

DIE ZEIT, 12/6/03; enth. in: Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft

Entstehungszeitraum: 29/05/2003 - 09/06/2003

Leseprobe

Was ist von einem Sechzigjährigen in knallengen Hosen zu halten, der sich im Schritt kratzt und dabei versichert, er könne und könne und könne nun mal keine Befriedigung finden – hat der etwas besonders falsch gemacht oder besonders richtig? Würde man ihn zum Vater haben wollen, zum Patenonkel, Bewährungshelfer, Konkursverwalter; wäre man womöglich selber gern so einer, ##forever young, forever hot?## – Leicht ist’s, über die Stones zu spotten, und über Mick Jagger ist’s am allerleichtesten. Dabei ist er doch längst eine tragische Figur.
Das Spotten über die Stones hat Tradition. Bereits im Juni ’82, als ich ihren spektakulär schlechten Auftritt im Münchner Olympiastadion aus 15 Meter Entfernung miterlebt hatte, notierte ich, daß außer Bill Wyman nichts gewesen war: „Die neuen Lieder klingen alle gleich“, „Jagger einfach nur peinlich“, „Sogar Peter Maffay [im Vorprogramm] besser“ – die Stones hatten sämtlichen Kredit bei mir verspielt. Nie wieder, schwor ich mir, nie wieder. Dabei hatte ich schlichtweg nicht begriffen, daß die Stones von Anfang an unglaubwürdig gewesen waren, Schauspieler ihres niederen Selbst, gesegnet mit dem Talent, das Prinzip Jugend in all seinen aufmüpfigen Facetten idealtypisch darzustellen. Und hatte erst recht nicht begriffen, daß die Stones mittlerweile nicht etwa zur härtesten und lautesten Rockband der Welt mutiert waren, wie ihre PR-Maschine suggerierte, sondern zu nichts Geringerem als einer Popband, die eine Marktlücke entdeckt hatte: die härteste und lauteste Rockband für die Welt zu ##spielen##.
Daß die Stones schon 1982 zu keinem Zeitpunkt des Konzerts an ihre auf Vinyl dokumentierte Benchmark herankamen, war für die restlichen 59.999 begeisterten Zuschauer kein Einwand, sie feierten ihre Idole als Inkarnation einer Weltanschauung. Musik galt den Stones schon damals eher als Mittel zum Zweck, ihre musikalische Mission war mit „Exile On Main St“ seit langem beendet, der Rest ihrer Karriere zielte in letzter Konsequenz auf Außermusikalisches, auf wertkonservatives Hüten eines Weltkulturgutes und damit auf kulturelle Deutungshoheit schlechthin. Selbstredend unter ständigem Rekurs auf jene frühere Mission und des darin inkorporierten Lebensprinzips – schon als Vierzigjährige demonstrierten sie am liebsten „ungebrochne“ Virilität, inszenierten ihren grandios potenten Gegenentwurf zum „seriösen“ Älterwerden: Bloß nicht weise werden und impotent! Heute, gut 20 Jahre später, tun sie’s noch immer, gerieren sich nicht etwa als gutgelaunte alte Säcke wie beispielsweise die Herrschaften von ZZ Top, sondern weiterhin als die ##bad boys##, die seit 40 Jahren ihre beneidenswerte Stellvertreterexistenz für uns alle führen, auch um den Preis – wie Mick Jagger unlängst bekannte –, sich dazu mit Kräutertee und Ballettstunden in Form zu halten.
Viel Spaß beim Seniorenabend, wünschte man mir denn auch sarkastisch, als ich mich nun doch wieder aufmachte ins Münchner Olympiastadion (…)