Alles wird gut – Chronik eines vermeidbaren Todes
Alles wird gut – Chronik eines vermeidbaren Todes
am 3. April 2023 im Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg
Die Buchpremiere findet am 30. März in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, Wien, statt.
400 Seiten
gebunden mit Schutzumschlag
mit zwei Karten im Vor- und im Nachsatz
€ 25,- / € 25,70 [A]
ISBN 978-3-455-01584-3
Weitere Formate und Veröffentlichungen
Alles wird gut – Chronik eines vermeidbaren Todes. Ein Dossier

im November 2022 im Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg
72 S.
Broschur, Fadenheftung
– Exklusiv für den Buchhandel –
ISBN 978-3-455-98610-5
E-Book "Alles wird gut – Chronik eines vermeidbaren Todes"

Über das Buch
Äthiopien 2020, am Vorabend des Krieges: Josef Trattner, Ausgrabungsleiter im Norden des Landes, verschlägt es an die Grenze zum Südsudan. In der winzigen Siedlung Surma Kibish begegnet er Natu, einer Frau mit abgerissenem Ohrläppchen – und einer Aura von Schönheit, Stärke und Gefahr, die ihn sogleich in ihren Bann zieht. Aber dann wird er Zeuge einer Szene von großer Grausamkeit. Als Natu am nächsten Tag plötzlich in seinem Wagen sitzt, wähnt er sich bereits auf der Flucht, mit ihr zusammen, in ein neues Leben. Doch unerbittlich bahnt sich ihrer beider Verhängnis an. Das alte Leben fordert seine Rechte und das neue einen hohen Preis.
Matthias Politycki führt mit seinem grandios erzählten Roman über kulturelle Grenzen und uralte Traditionen mitten hinein in die Verwerfungen unserer Welt, in der sich die Menschen sehr viel näher gekommen sind und doch fremd bleiben. Er erzählt von einer jungen Frau, die nicht länger bereit ist, sich den jahrhundertealten Rollenerwartungen ihres Volkes zu fügen, von den immergleichen Sehnsüchten und brandaktuellen Enttäuschungen zwischen den Geschlechtern und von einer Liebe, die selbst in stockdunkler Nacht nach den Sternen greift.
Leseprobe
Da war sie wieder! Auf ihrer Schulter die verknoteten Enden eines weißen Tuchs, es fiel ihr bis übers Knie, die andre Schulter nackt, die Arme nackt bis auf Dutzende dünner Messingreife, einer am andern, vom Handgelenk fast bis hoch zum Ellenbogen. Überaus nackt und glänzend der glattrasierte Schädel, ein paar Kreise aus raspelkurz gestutztem Haar als Verzierung da und dort. Anstelle des Ohrläppchens ein großer, leerer Reif aus Haut und Knorpel. Wie gerahmt darin die Halssehne. Das alles von der späten Nachmittagssonne so überdeutlich ausgeleuchtet, daß er’s nie würde vergessen können, dessen war sich Trattner sogleich gewiß. Als sie ihm das Gesicht zuwandte, kam auch ihr andres Ohr zum Vorschein, und mit dieser Drehung des Kopfes verwandelte sie sich von der Fremden, die ein paar Meter entfernt vor einer der Baracken stand, verwandelte sich in die Frau, bei deren Anblick ihm heut schon mal das Herz ausgesetzt hatte.
Das andre Ohr war zur Hälfte abgerissen, sie war’s.
Unwillkürlich hatte er innegehalten, gebannt wie vor Stunden schon einmal, nur war jetzt kein Weraxa an seiner Seite, der ihn hätte anstoßen, auslachen, davonführen können. Und Kokordi war schon mit Bargudu weitergegangen, weil sie beide Durst hatten und Trattner eine weitere Kneipe zeigen wollten.
Da war sie wieder. Trattner hatte sie am Morgen gesehen, kurz nachdem die Männer das Blut aus dem Hals eines Rindes getrunken hatten. Erst hatten sich ein paar Jungen Gesicht und Hände mit Asche eingerieben, die eifrigsten mit Kuhfladen. Immer mal wieder stiegen sie auf die Rücken der Tiere, sahen sich um und um und um, als suchten sie das Dickicht nach Gefahren ab, sprangen wieder herunter. Der kleinste hatte die Aufgabe, die Wachhunde zu verscheuchen. Dann spülten sie ihre Plastikbehältnisse mit Rinderurin, um sie vor dem Melken zu reinigen, meist Mineralwasserflaschen, die sie knapp unterm Verschluß aufgeschnitten hatten. Um Trattner kümmerte sich keiner, er hatte Muße, die verschieden geschmückten Tiere zu betrachten. Manchen hatte man die Hörner zusammengebunden, damit die Spitzen nach innen wuchsen, alle hatten sie verschieden breite Kerben in den Ohren, Markierungen ihrer Besitzer. Bei einem der Rinder waren beide Ohren durchgehend gezackt, man hatte seinen Kopf mit farbigen Bändern geschmückt und mit den Hauern eines Warzenschweins: das Lieblingstier des Besitzers, Bargudus Augen hingen an ihm mit Wohlgefallen.
Nach dem Melken befreite man die Kälber aus ihrem Gehege und ließ sie in den Kraal zu den Muttertieren. Laut schnalzten die Jungen mit den Zungen, erzeugten auf diese Weise verschiedne Töne, mit denen sie Rind um Rind herbeiriefen, beruhigten, wegschickten; so suchten sie eines aus, von dem sie heute trinken wollten. Milch gab’s auch für kleine Kinder, Frauen und Alte, Blut nur für Männer und Jungen – indem sie’s tranken, waren die Jungen fast schon Männer. Zu dritt hielten sie schließlich eine Kuh fest und banden ihr die Hals schlagader mit einem Seil ab. Einer packte die Kuh an Ohr und Unterkiefer, ein zweiter an Schwanzansatz und Hinterbein, der dritte am Rückenhöcker, mit der andern Hand bedeckte er das Auge des Tiers, das auf den Schützen gerichtet war. Dieser, ein Mann und gleichfalls nackt – um die Hüften lief ihm locker eine Schnur –, kniete sich etwa zwei Meter entfernt hin, schoß einen Pfeil gerade so fest ab, daß die Halsschlagader angeritzt wurde und das Blut hervorsprang. Der kleinste Junge fing den Strahl in einer Schale auf. Es hörte sich an wie das muntere Sprudeln eines Bächleins. Als die Schale randvoll war, wurde das Seil, mit dem die Ader des Rindes abgebunden war, kurz über die Wunde gelegt, es genügte, um sie zu verschließen. Ein Mann reichte Trattner die Schale, als Gast hätte er die Ehre gehabt, den ersten Schluck zu nehmen. Trattner übergab sie sofort an Weraxa, der an seiner Statt trank, erstaunlich lange. Danach wanderte die Schale von Mann zu Mann, von Junge zu Junge. Den letzten Rest bekamen die Hunde, nachdem einer seine Ferse in einen frischen Kuhfladen geschlagen hatte, um einen Napf für das Blut zu formen.
Die ganze Zeit war Bargudu am Eingang des Geheges gestanden und hatte alles mit kritischem Blick überwacht. Nun forderte er die Jungen auf, ein Lied zu singen. Sie taten’s und klatschten dazu den Rhythmus, es klang lustlos. Doch es mußte sein, als Dorfältester trug Bargudu dafür Sorge, daß Trattner all das zu sehen bekam, was Weraxa bei ihm bezahlt hatte. Trattner war einer der wenigen, die’s bis Surma Kibish geschafft hatten; die meisten scheuten den weiten Weg und beschränkten ihre Neugier auf Völker, die auf der andern Seite des Omo lebten, nach ein paar Stunden fuhren sie weiter. Dieser hier war offensichtlich kein gewöhnlicher Tourist, er war mit seinen zwei Begleitern auf eigne Faust gekommen. Einen Kilometer flußaufwärts hatten sie ihre Zelte aufgeschlagen, gleich hinter der Bananenplantage, direkt am Ufer des Kibish, und man tat bestimmt gut daran, sie im Auge zu behalten.
[…]
Bilder, wie sie nicht im Buche stehen